Das neue Jahr steht im Zeichen bedeutender Jubiläen. Die Welt gedenkt zweier Ereignisse, die die Geschichte verändert haben: 500 Jahre Reformation, 100 Jahre Oktoberrevolution.
Am 31. Oktober 1517 soll der Mönch Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Türe der Schlosskirche von Wittenberg genagelt haben. Ob er dies wirklich tat, ist umstritten, aber mit seiner Streitschrift setzte Luther eine Entwicklung in Gang, die die westliche Welt umpflügte.
Am 7. November 1917 (nach dem damals in Russland gültigen Kalender am 25. Oktober) begann in St.Petersburg die Oktoberrevolution. Sie prägte das 20. Jahrhundert, hatte im Gegensatz zur Reformation aber keine nachhaltige Wirkung. Dafür kostete sie Dutzende Millionen Menschen das Leben. Heute haben sich fast alle «kommunistischen» Länder dem Kapitalismus geöffnet.
Der revolutionäre Gedanke aber lebt, und er hat ausgerechnet mit der Wahl des Erzkapitalisten Donald Trump zum US-Präsidenten einen Aufschwung erfahren. Rechtspopulisten in Europa jubelten über den «Aufstand» des «Volks» gegen die arroganten Eliten, wie bereits beim Ja der Briten zum EU-Austritt im Juni. Roger Köppel und Markus Somm, die publizistischen Speerspitzen der Rechtsbürgerlichen in der Schweiz, verherrlichten Trumps Wahl als «Revolution».
Es entbehrt nicht der Ironie, dass ein Milliardär, der in einem palastähnlichen Wolkenkratzer residiert, zum Heilsbringer des «kleinen Mannes» erhoben wird. Aber eigentlich ist Trumps Erfolg nicht zum Lachen, sondern zum Fürchten. Es ist bedenklich, dass ein pathologischer Lügner und dünnhäutiger Krawallmacher zum US-Präsidenten und damit zum mächtigsten Mann der Welt gewählt werden konnte.
Man könnte es sich leicht machen und den Erfolg des Republikaners mit spezifisch amerikanischen Faktoren erklären, etwa dem dysfunktionalen Zweiparteiensystem oder den Ängsten der Weissen vor dem demografischen Wandel. Aber das greift zu kurz. Trump, Brexit und der Aufschwung rechter Parteien in Europa sind Symptome einer tief sitzenden Frustration. Und der Krise eines Systems, das in den letzten Jahrzehnten überaus erfolgreich war.
Die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft haben unzähligen Menschen ein hohes Mass an Wohlstand und persönlicher Freiheit verschafft. Nun sind sie mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Gewalt durch islamistischen Terror, weltweite Migrationsströme, autoritäre Regime, Globalisierung und Digitalisierung, die unbewältigte Euro- und Schuldenkrise. Zusammen bilden sie eine Art «perfekten Sturm», der das Konzept der liberalen Demokratie aus den Angeln zu heben droht.
Es ist wohlgemerkt ein Sturm und kein Orkan. Dafür sind die Verhältnisse (noch) zu stabil. Die Welt ist nicht aus den Fugen geraten, auch wenn manche das so sehen. Aber die Verunsicherung wächst, wenn der demokratische Rechtsstaat keinen ausreichenden Schutz vor Terroristen garantieren kann, wie zuletzt beim Anschlag in Berlin. Und wenn die liberale Marktwirtschaft keine Antworten hat auf die Abstiegsängste vieler Menschen angesichts von Globalisierung und Digitalisierung.
Verunsicherung aber ist Gift für eine freiheitliche Gesellschaft.
Kein Wunder, werden derzeit Vergleiche mit den 1930er Jahren angestellt. Damals wie heute litt die Welt unter den Folgen einer schweren Wirtschaftskrise. Profiteure waren die Faschisten und Stalins Sowjetunion. Sie schufen Arbeit und erzeugten damit den Eindruck, den Demokratien überlegen zu sein. Es gibt aber auch Parallelen zur Epoche vor 100 Jahren. Dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution seien «Jahre des liberalen Triumphalismus» vorausgegangen, schreibt der «Economist»-Kolumnist Adrian Wooldridge.
Nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte ein ähnliches Triumphgefühl. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama sorgte 1992 mit seinem Buch «Das Ende der Geschichte» für Furore. Er erklärte darin liberale Demokratie und Marktwirtschaft faktisch für «alternativlos». Heute wirkt Fukuyama desillusioniert. «Wir gehen derzeit in die falsche Richtung», sagte er im letzten März in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit».
Wer glaubt, 2016 sei ein mieses Jahr gewesen, sollte sich warm anziehen. Es dürfte 2017 kaum besser werden. Donald Trump wird sein Amt antreten, was Anlass zu grösster Sorge ist. In Frankreich und Deutschland, den beiden «Motoren» der Europäischen Union, wird gewählt. Islamistische Terroristen könnten dies für neue Anschläge nutzen und ihre perverse Symbiose mit den Rechtsradikalen anheizen, in der sich die beiden Extreme gegenseitig hochschaukeln.
International trumpfen die Autokraten auf, insbesondere der zu früh tot gesagte Baschar Assad. In der Türkei treibt Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch die «Säuberung» des Landes voran. Der russische Präsident Wladimir Putin gebärdet sich als starker Mann der Weltpolitik, bewundert von vielen im Westen. Ungarns Regierungschef Viktor Orban propagiert in aller Offenheit die «illiberale Demokratie». Und die Volksrepublik China vermittelt den Eindruck, dass Wohlstand auch in einem unfreien und undemokratischen System möglich ist.
China ist der grösste Gewinner der Globalisierung. Im Westen dagegen sind zahllose Mittelstands-Jobs verschwunden. Das erzeugt Frustration bei den Verlierern und Ängste bei jenen, die sich vor dem Abstieg fürchten. In den westlichen Demokratien hat die Politik diese Gefühlslagen zu lange verdrängt und ignoriert. Noch weit mehr Arbeitsplätze stehen durch die Digitalisierung auf dem Spiel.
Die Politik wirkt im Umgang mit Sharing Economy und Industrie 4.0 hilflos. Sie hinkt der Entwicklung hinterher, während disruptive Unternehmen wie Uber und Airbnb Tatsachen schaffen. Tech-Giganten wie Google und Amazon haben eine Marktmacht erreicht, die «Economist»-Kolumnist Adrian Wooldridge an die «Räuberbarone» genannten Grosskapitalisten am Ende des 19. Jahrhunderts erinnert.
Zu Luthers Zeiten war die katholische Kirche reif für eine Reformation. Heute ist es die liberale Demokratie, die reformbedürftig ist. Im letzten Vierteljahrhundert habe es der Liberalismus «zu einfach gehabt», heisst es in einer Analyse des «Economist». Seine Dominanz nach dem Kollaps des Sowjet-Kommunismus sei «zu Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit verkommen».
«Was tun?» fragt man sich in Anlehnung an den sowjetischen Revolutionsführer Lenin. Eine Entschleunigung könnte helfen. Viele Menschen wählen linke und rechte Populisten auch aus Protest gegen eine sich rasant verändernde Welt, mit der sie überfordert sind. Aber das ist wohl nur ein frommer Wunsch.
Häufig wird die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Hoffnungsträgerin der freien Welt erklärt. Das ist fatal, denn Merkel verbrachte die meiste Zeit ihrer Kanzlerschaft damit, den Status Quo zu verwalten und die politische Mitte zu okkupieren. Als Krisenmanagerin ist ihre Bilanz gelinde gesagt zwiespältig. In der Euro- wie in der Flüchtlingskrise hinterliess sie keinen vorteilhaften Eindruck. Mit Aussitzen nach dem Vorbild von Helmut Kohl ist es nicht mehr getan.
Soll man die Hoffnung also aufgeben? Keineswegs. Es gibt positive Entwicklungen. Ein Lichtblick 2016 war der Abstimmungskampf zur SVP-Durchsetzungsinitiative. Ihre Ablehnung und vor allem die rekordverdächtige Stimmbeteiligung zeigten, was mit leidenschaftlichem Einsatz möglich ist. Anderswo ereignete sich Ähnliches. In Polen brachten Frauenproteste ein von der rechtsnationalen Regierung geplantes Abtreibungsverbot zu Fall.
Es genügt jedoch nicht, auf der Strasse oder in den sozialen Medien gegen die rechten Verführer anzukämpfen, die mit dem Rückzug in die vermeintliche Geborgenheit des Nationalstaats auf Stimmenfang gehen. Nötig ist auch das Engagement in der oft mühsamen Politik. Gefragt sind pragmatische Lösungen für die Probleme der Gegenwart. Und visionäre Ideen für die Zukunft.
Gerade unter den jungen Menschen findet man viele ausserordentlich talentierte Köpfe. Sie müssen nur ihre Abneigung gegen das vermeintliche «Drecksgeschäft» Politik überwinden. Denn es steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt ihre Zukunft.
2017, das Jahr des historischen Doppeljubiläums, wird auch zum Schicksalsjahr für die liberale Demokratie. Mit einer «Reformation» kann und muss sie revitalisiert werden, denn eine gleichwertige Alternative existiert nicht. Nach wie vor gilt das Bonmot von Winston Churchill, wonach die Demokratie die schlechteste aller Staatsformen ist – ausgenommen alle anderen.
Sehe ich etwas anders. China ist die Produktionshalle der westlichen Welt geworden und bezahlt einen hohen Preis dafür, indem sie ihre Natur und bedingt auch ihre Kultur regelrecht zerstören.
Geld alleine ist nicht alles...
Ausserdem hat sich die klassische Ordnung von Arbeitgeber, -nehmer, Produkt und Kunde durch das Internet geändert. Das (kostenlose) Produkt von Facebook sind ja z. B. die Benutzer und ihre Daten, die sie an Werbefirmen verkaufen und damit Milliarden verdienen (und diese vermutlich auch noch am Fiskus vorbei schmuggeln). Wie ist soetwas fair?