Im Tessin klagen die Behörden über einen Ansturm von Asylsuchenden. Der wahre Ausnahmezustand aber spielt sich an der engsten Stelle des Ärmelkanals ab. Tausende Flüchtlinge warten im französischen Calais auf eine Gelegenheit, nach Grossbritannien zu gelangen. Dabei scheuen sie kein Risiko: Bleibt ein Sattelschlepper stehen, öffnen sie die Hecktüre und springen hinein, auch wenn sich das Fahrzeug wieder in Bewegung setzt.
Solche Bilder gehören in Calais zum Alltag. Am Dienstag aber war die Gelegenheit besonders günstig. Streikende französische Fährarbeiter blockierten sowohl den Hafen von Calais wie die Zugverbindungen durch den Eurotunnel. Rasch bildete sich ein langer Lastwagenstau, den die Migranten nutzen wollten, um sich als blinde Passagiere auf die Insel zu schmuggeln.
Die 600 Mitarbeiter von MyFerryLink fürchten um ihre Jobs und protestieren gegen den angekündigten Verkauf von zwei ihrer drei Fährschiffe durch Eurotunnel an den dänischen Konkurrenten DFDS. Zuvor war erwartet worden, dass Eurotunnel die Schiffe zwar verkaufen will, dass aber ein anderer Partner das Geschäft weiterführt.
Calais today. There's nothing furtive about it. Migrants taking what chances they can. pic.twitter.com/Zqv8Ceg6qA
— Paul Adams (@BBCPaulAdams) 23. Juni 2015
Mehr als 3000 Flüchtlinge vorab aus Afrika und dem Nahen Osten hausen auf einem Brachland bei Calais unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen. Verschiedene Gründe locken sie nach England, vor allem die geringe Sprachbarriere und die vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit. Hilfsorganisationen sind am Anschlag. Die französische Regierung will feste Unterkünfte erstellen, was wiederum Ängste auslöst, Calais könne noch mehr zum Magnet für Migranten werden.
Längst streiten Politiker beider Länder über die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Natacha Bouchart, die konservative Bürgermeisterin von Calais, forderte am Montag in einem Interview, Frankreich solle gegenüber Grossbritannien Klartext reden und einen «diplomatischen Zwischenfall» provozieren: Entweder die Briten träten dem Schengen-Raum bei und würden so die Grenzkontrollen abschaffen. Oder sie sollten die Europäische Union verlassen. (pbl)