International
Migration

Für das Drama der Flüchtlinge gibt es nur eine Lösung: Europa muss sie reinlassen

Die italienische Grenzwache evakuiert am Donnerstag die Insassen eines vollgepferchten Schlauchboots.
Die italienische Grenzwache evakuiert am Donnerstag die Insassen eines vollgepferchten Schlauchboots.Bild: AP/ANSA

Für das Drama der Flüchtlinge gibt es nur eine Lösung: Europa muss sie reinlassen

Europa will Flüchtlingstragödien im Mittelmeer mit Abschreckung verhindern. Ein sinnloses Unterfangen: Zu gross ist die Attraktivität des Kontinents. Eine grosszügige Aufnahme wäre nötig, doch dafür fehlt der Mut. 
26.04.2015, 08:3904.05.2015, 11:54
Mehr «International»

Die Beschlüsse des EU-Sondergipfels zur Flüchtlingskrise am Mittelmeer sprechen eine klare Sprache: Es ist die der Abschreckung. Die Mittel für den Grenzschutz sollen verdreifacht, die Schlepper bekämpft und ihre Boote zerstört werden. Afrikanische Staaten sollen ihre Landesgrenzen besser kontrollieren, damit die Flüchtlinge gar nicht bis an die Küste gelangen. Wer es trotzdem nach Europa schafft, soll rasch abgeschoben werden.

Die «Festung Europa» soll standhalten, um jeden Preis. Von einer grosszügigeren Aufnahme, mehr Möglichkeiten zur legalen Einwanderung oder Verteilquoten auf die Mitgliedsstaaten war keine Rede. «Der Flüchtlingsgipfel der EU – er war ein Gipfel des Selbstbetrugs», kommentierte der ARD-Hörfunk die Beschlüsse vom Donnerstag. Die «Abschreckungs-Union» werde nicht funktionieren, weil kein Schrecken grösser sei als jener, dem die Flüchtlinge entkommen wollten.

Drama im Mittelmeer: Trauermarsch in Brüssel

1 / 11
Drama im Mittelmeer: Trauermarsch in Brüssel
Mit einem symbolischen Trauermarsch haben rund 1000 Menschen in Brüssel gegen die Flüchtlingspolitik Europas protestiert.
quelle: ap/ap / geert vanden wijngaert
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Und weil Europas Attraktivität ungebrochen ist, Eurokrise hin oder her. So lange der Kontinent als Hort des Wohlstands und der Stabilität erscheint, so lange werden Menschen, die unter Armut, Perspektivlosigkeit und Krieg leiden, zu uns kommen. Und sich durch nichts aufhalten lassen. 

«Europa, der enge und doch weite Kontinent, könnte viel mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen.»
Thomas Schmid, Herausgeber «Die Welt»

Gerade die Schweiz hat damit ihre Erfahrungen gemacht. Wiederholt wurde in den letzten 30 Jahren das Asylgesetz verschärft. Die Zahl der Asylbewerber aber nahm höchstens kurzfristig ab, denn die Magnetwirkung des «Paradieses» Schweiz ist zu gross. Selbst wenn wir eine Mauer um das Land errichteten, die Flüchtlinge würden einen Weg finden.

Zeit, das Undenkbare zu denken: Warum nehmen wir in Europa die Flüchtlinge nicht einfach auf?

Flüchtlingsdrama vor Rhodos

1 / 13
Flüchtlingsdrama vor Rhodos
Wenige Meter vor der Küste der griechischen Touristeninsel Rhodos sind am 20. April 2015 nach übereinstimmenden Medienberichten mindestens drei Flüchtlinge ertrunken, darunter ein etwa vierjähriges Kind.
quelle: epa/ana-mpa / loukas mastis
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Es ist eine ketzerische Frage in einer Debatte, in der die Vernunft zwischen Empörung auf der einen und Zynismus auf der anderen Seite einen schweren Stand hat. Erste Stimmen in diese Richtung aber sind zu vernehmen. Alle reinzulassen sei «die einzige echte Lösung für Europas Migrationskrise», schreibt das linksliberale US-Onlineportal Vox. Auch Thomas Schmid, Herausgeber des rechtslastigen Springer-Blatts «Die Welt», rüttelt am Tabu: «Europa, der enge und doch weite Kontinent, könnte viel mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen.»

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern hat mehr als einer Million Bürgerkriegsopfern aus Syrien Zuflucht geboten. Ein Kraftakt, der das kleine Land an die Grenzen der Belastbarkeit bringt. Und der doch aufzeigt, welche Möglichkeiten Europa hätte. 

Selbst die angeblich eine Million Flüchtlinge, die in Libyen zur Fahrt über das Mittelmeer bereit sein sollen, wirken im Vergleich relativ. «Unsere wohlgeordnete Halbinsel verfügt noch immer über viel Aufnahme-, Anverwandlungs- und Integrationskraft», meint Thomas Schmid.

Umfragen zeigen, dass die Europäer womöglich grosszügiger sind, als ihre Regierungen annehmen. Laut einer am Freitag vorgestellten Umfrage der ARD wollen 50 Prozent der Deutschen mehr Flüchtlinge aufnehmen, 44 Prozent sind dagegen. Eine grosse Mehrheit von 70 Prozent sprach sich dafür aus, legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa zu schaffen. Der alternde, müde Kontinent könnte die meist sehr motivierten Migranten gebrauchen.

Eine grosszügige Aufnahmepraxis wäre ein Gebot der Vernunft. Die Realpolitik verhindet, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt.

Die Kehrseite einer grosszügigen Aufnahme sollen nicht verschwiegen werden. Wenn Europa seine Tore für Einwanderer öffnet, könnte eine Sogwirkung entstehen, die nicht zuletzt den Herkunftsländern schadet. Flankierend müssten die Lebensbedingungen dort verbessert werden. In Nordafrika sollten die Europäer jene Staaten tatkräftig unterstützen, in denen Ansätze zu einer positiven Entwicklung erkennbar sind, Marokko etwa und vor allem Tunesien.

Eine starke Einwanderung aus Afrika und Nahost wird zudem das Gesicht des Kontinents verändern – eine Perspektive, die viele ängstigt. Schmid sieht ein Europa, «in dem es die rechtsstaatlich-republikanische Leitkultur schwerer als bisher haben wird, sich zu behaupten». Das mag übertrieben sein, schliesslich wollen viele wegen dieser Leitkultur zu uns. Die Herausforderungen an die von Schmid gerühmte Integrationskraft werden trotzdem immens sein.

Abschreckung statt Aufnahme: David Cameron am Brüsseler Gipfel.
Abschreckung statt Aufnahme: David Cameron am Brüsseler Gipfel.Bild: Virginia Mayo/AP/KEYSTONE

Die heutigen Regierungen wollen sich ihnen nicht stellen. Sie fürchten, dass die geringste Lockerung der restriktiven Flüchtlingspolitik den Rechtspopulisten in die Hände spielen wird. Der britische Premierminister David Cameron kündigte am Brüsseler Gipfel mit markigen Worten die Entsendung eines Kriegsschiffs ins Mittelmeer an, von einer Aufnahme von Flüchtlingen wollte er aber nichts wissen. Cameron droht die Abwahl, weil die einwanderungskritische United Kingdom Independence Party (Ukip) seinen Konservativen Wähleranteile abjagt.

Auch die Schweiz bietet hier ein unrühmliches Beispiel: Das Thema Asyl ist neben der EU der wichtigste Erfolgsfaktor der SVP. Nicht umsonst hat sie damit geliebäugelt, im Wahljahr eine neue Asyl-Initiative zu lancieren. Dabei trägt Europa eine Mitverantwortung an der Misere. Man muss dazu nicht gleich die alte Kolonialismus-Platte auflegen. Europäische Schiffe fischen die Gewässer Afrikas leer und entziehen den lokalen Fischern die Lebensgrundlage. Gleiches gilt für die Bauern, die durch hoch subventionierte europäische Agrarprodukte bedrängt werden.

Migration
AbonnierenAbonnieren

Eine grosszügige Aufnahmepraxis wäre ein Gebot der Vernunft. Die Realpolitik verhindet, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt. So lange Europa aber ein Magnet für die Armen und Gepeinigten bleibt, so lange werden sie kommen und lieber im Meer ertrinken, als die Hoffnung auf ein besseres Lebens aufzugeben. 

Wer glaubt, dass Abschreckung das Problem lösen wird, belügt sich selbst.

Soll Europa mehr Flüchtlinge aufnehmen?

Private Seenotretter im Mittelmeer

1 / 9
Private Seenotretter im Mittelmeer
Umgebauter Fischtrawler «Phoenix 1» beim Auslaufen in Valletta (Malta): Auf eigene Kosten rüsteten die Catrambones das Schiff zum Seenotrettungskreuzer aus.
quelle: x01097 / darrin zammit lupi
Auf Facebook teilenAuf X teilen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
131 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Merida
26.04.2015 10:16registriert November 2014
Was ist mit der Hilfe im Herkunftsland? Diktaturen sind nirgends auf der Welt tolerierbar! Politische Einmischung ist immer schwierig, aber die Menschen dort können sich allein nicht wehren!!!
572
Melden
Zum Kommentar
avatar
足利 義明 Oyumi Kubo
26.04.2015 09:41registriert August 2014
Haben nur junge Männer dort die Hosen voll und lassen die Frauen und Kinder im Stich?

Wenn schon, dann sollten wir uns um die Frauen und Kinder kümmern, die liessen sich auch leichter integrieren.
6620
Melden
Zum Kommentar
avatar
Fondue
26.04.2015 14:21registriert Januar 2015
"Das Paradies Schweiz/Europa", lasst sie nur alle unkontrolliert rein. Dann verschwindet die Meinung automatisch aber auch das Paradies, die Sicherheit, die Bewohner die Geld haben auszuwandern usw. und ich will dann niemand weinen sehen. Den wir werden so auch zu einem kaputten Land. Bin für System Australien und Hilfe vor Ort alles andere ist Rosa-Welt-Denken.
6520
Melden
Zum Kommentar
131
Fast 140 Todesopfer bei Starkregen in Afghanistan und Pakistan

In Afghanistan und Pakistan ist die Zahl der Todesopfer durch Unwetter in den vergangenen Tagen auf mindestens 137 gestiegen.

Zur Story