Monatelang hatte es Premierministerin Theresa May wie ein Mantra verkündet: «Brexit means Brexit» – der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union stehe fest. Was aber der Brexit wirklich bedeutet, blieb lange unklar. Und eigentlich wissen die Briten noch immer nicht, was sie genau wollen, obwohl die Austrittsverhandlungen am Montag offiziell begonnen haben.
Rund ein Achtel der zweijährigen «Kündigungsfrist» ist abgelaufen. Auf Seiten der Europäer wächst die Ungeduld. Ihre Delegation, angeführt vom französischen Karrierediplomaten Michel Barnier, ist längst startklar. Das Verhandlungsmandat wurde von den 27 übrigen EU-Ländern verabschiedet. In London hingegen herrschen in Sachen Brexit Chaos und Kakophonie.
Mit den vorgezogenen Neuwahlen wollte Theresa May sich ein starkes Mandat verschaffen, um notfalls einen «harten» Brexit ohne neue Vereinbarung durchziehen zu können. Der Schuss ging nach hinten los, ihre konservative Partei hat die Mehrheit im Unterhaus eingebüsst. Die neue Konstellation ist ein Rückschlag für die Verfechter eines klaren Bruchs mit der EU.
Michael Gove, den May nach den Wahlen zum Umweltminister ernannt hat, machte letzte Woche in einem Radiointerview eine bemerkenswerte Aussage. Man müsse in den Verhandlungen auf die Befindlichkeit der EU-Befürworter Rücksicht nehmen. Dabei hatte Gove bei der Abstimmung vor einem Jahr zusammen mit Boris Johnson die «Leave»-Kampagne der Konservativen angeführt.
Laut der Zeitung «Telegraph» soll es Gespräche zwischen der konservativen Regierung und der oppositionellen Labour-Partei über einen «weichen» Brexit gegeben haben. Die Linke unterstützt den Austritt, fordert aber eine starke Anbindung an die EU. Sie wurde bei den Wahlen gestärkt. Labour-Chef Jeremy Corbyn wittert offenbar die Chance, bei baldigen Neuwahlen die Macht zu erobern.
Ganz anders sieht die Gefühlslage bei Theresa May aus. Sie ist eine Regierungschefin auf Abruf. Ihr unsensibles Verhalten nach der Brandkatastrophe im Grenfell Tower, als sie sich beim ersten Besuch weder mit freiwilligen Helfern noch mit Überlebenden traf, hat ihren Mangel an Sozialkompetenz offen gelegt. Er gilt auch als wesentliche Ursache für das Wahldebakel der Tories.
May kann laut britischen Medien nur deshalb vorläufig im Amt bleiben, weil ihre Partei einen Machtkampf um die Nachfolge zwischen den Befürwortern eines «harten» und eines «weichen» Brexit fürchtet. Faktisch aber wirkt die britische Politik führungslos. Dabei machen sich die Nachteile eines EU-Austritts für die Bevölkerung bereits heute zunehmend bemerkbar.
In den letzten Jahren wuchs die britische Wirtschaft stärker als jene auf dem Kontinent. Die von manchen Ökonomen vorhergesagte Rezession nach der Abstimmung vor einem Jahr blieb aus. Für EU-Gegner auch in der Schweiz war dies ein Indiz dafür, dass der Brexit gar nicht so schlimm ist. Nun aber machen sich deutliche Bremsspuren bemerkbar.
Im ersten Quartal 2017 wuchs die Wirtschaft im Königreich nur noch um 0,2 Prozent. Das ist deutlich weniger als erwartet. Gleichzeitig nimmt das Wachstum in der Eurozone an Fahrt auf. Ein anhaltendes Problem ist die schwache Produktivität der britischen Wirtschaft, insbesondere ausserhalb der boomenden Hauptstadt London, die klar für den Verbleib in der EU votiert hatte.
Seit dem Ja zum Brexit schwächelt das britische Pfund. Das freut die Exporteure, doch für die Konsumenten bedeutet dies höhere Preise für Importprodukte. Die Inflationsrate erreichte im Mai mit 2,9 Prozent den höchsten Stand seit vier Jahren. Dies drückt auf die Stimmung der Briten, deren Kaufkraft schwindet. Die Realeinkommen schrumpften im ersten Quartal so stark wie seit 2014 nie mehr. Entsprechend schlecht beurteilen die Briten ihre finanziellen Aussichten.
Der Brexit könnte zu einer Verlagerung von britischen Jobs in den EU-Raum führen, lautet eine oft gehörte Befürchtung. Nun mehren sich die Indizien. So planen die Banken in der Londoner City offenbar die Verlagerung von rund 9000 Jobs in EU-Finanzzentren wie Frankfurt, Paris oder Dublin. Airbus-Chef Tom Enders drohte letzte Woche mit einem Ende der Produktion in Grossbritannien im Fall eines harten Brexit. Rund 15'000 Stellen wären betroffen.
Das Vertrauen in der britischen Wirtschaft ist seit den Wahlen zusätzlich erschüttert. Der Industrieverband EEF forderte letzte Woche einen Verbleib des Königsreichs im gemeinsamen Markt und in der Zollunion. Die Unsicherheit ist zudem Gift für das Investitionsklima. Deutschland könnte 2017 Grossbritannien als bevorzugter Standort für ausländische Firmen in Europa ablösen.
Der Ärger über die starke Zuwanderung war ein wesentlicher Faktor für das Ja zum EU-Austritt. Das hat Folgen insbesondere für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS. Nach der Abstimmung ist die Zahl der Pflegekräfte aus der EU, die in Grossbritannien arbeiten wollen, stark gesunken. Im April wurden noch 1304 Neuzugänge registriert, 96 (!) Prozent weniger als im gleichen Vorjahresmonat. Dabei fehlen allein in England rund 30'000 Pfleger.
Das Problem wird verstärkt durch die zunehmende Rückwanderung in die EU. Mehrere Tausend Ärzte und Pflegekräfte haben den NHS seit der Abstimmung vor einem Jahr verlassen. Der britische Ärzteverband befürchtet, dass sich das Problem während den Verhandlungen verstärkt. Viele EU-Bürger fühlen sich sei dem Austrittsentscheid auf der Insel nicht mehr willkommen.
Die britische Regierung hat das Problem erkannt. Nachdem sie das Aufenthaltsrecht der EU-Bürgerinnen und -Bürger anfangs als «Pfand» in den Verhandlungen verwenden wollte, ist sie laut Medienberichten von letzter Woche zu umfassenden Zugeständnissen bereit. Dazu gehöre ein vorzeitiges Bleiberecht für rund eine Million EU-Bürger.
Eine besondere Knacknuss in den Verhandlungen bleibt die Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland, die heute weitgehend offen ist. Eine Abriegelung will so gut wie niemand, auch nicht die königstreuen nordirischen Unionisten, die eine konservative Minderheitsregierung unterstützen sollen und den Brexit grundsätzlich befürworten.
Damit die Grenze offen bleibt, müssten die Briten in der Zollunion mit der EU verbleiben. Das aber würde ihre Möglichkeit einschränken, neue Freihandelsverträge abzuschliessen. Der EU-freundliche Schatzkanzler Philip Hammond erklärte am Sonntag der BBC, Grossbritannien werde den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Für den inneririschen Grenzverkehr brauche man möglicherweise eine temporäre Lösung für einige Jahre. Unklar ist, wie diese aussehen soll.
Das Beispiel ist typisch für die Konfusion im Londoner Regierungsbezirk Westminister. Immer mehr zeigt sich, dass der Beschluss zum Austritt einfach, der Vollzug aber ungleich schwieriger ist. Auf Seiten der EU wächst deshalb laut dem «Guardian» die Befürchtung, dass die britische Regierung zu schwach ist, um eine tragfährige Lösung für den Brexit zu erzielen. Am Ende könne es nicht zu einem harten, sondern einem «brutalen» Brexit ohne irgend einen Deal kommen.