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Ellwangen – weshalb Deutschland über die Vorfälle in einer Kleinstadt spricht

epa06708118 German police wearing masks at the reception center for refugees in Ellwangen, Germany, 03 May 2018. On the night of April 30, the police arrested a 23-year-old resident from Togo for a de ...
Polizeibeamte bei einer Grossrazzia einer Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen.Bild: EPA/SDMG

Ellwangen – weshalb ganz Deutschland über die Vorfälle in einer Kleinstadt spricht

Über 150 aufgebrachte Flüchtlinge bringen eine Handvoll Polizisten dazu, eine geplante Abschiebung abzubrechen. Ein Fall, der ganz Deutschland seit Tagen in den Bann zieht.
08.05.2018, 16:5908.05.2018, 17:26
Corsin Manser
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Beschauliche 27'000 Einwohner zählt Ellwangen. Dennoch ist die baden-württembergische Kleinstadt an der Grenze zu Bayern in den vergangenen Tagen ins Zentrum der deutschen Politik gerückt.

Grund dafür ist die missglückte Abschiebung eines Togolesen aus einem Flüchtlingszentrum. Über 150 Mitbewohner sollen sich organisiert und die Polizisten in die Flucht getrieben haben. Gestern erhielt die Angelegenheit neue Brisanz, nachdem sich der Anwalt des Togolesen kritisch zur Vorgehensweise der Polizei geäussert hatte.

Doch von vorne.

Was ist passiert?

In der Nacht auf Montag den 30. April gegen 2.30 Uhr fahren zwei Streifenwagen vor der Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen vor. Knapp 500 Personen, vorwiegend aus Nigeria, Kamerun und Guinea wohnen in der sogenannten Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA).

Die Polizei ist mit einem klaren Auftrag gekommen. Sie muss einen Togolesen abholen, der abgeschoben werden soll. Zurück nach Italien, in jenes EU-Land, in dem er als erstes registriert wurde.

Der Togolese verhält sich ruhig, ihm werden Handschellen angelegt, er wird vors Polizeiauto geführt. Doch dann beginnen sich die Mitbewohner gegen die geplante Abschiebung zu wehren. Gemäss Zeugen versammeln sich 150 bis 200 Personen um das Dienstauto und bedrängen die Polizei. Sie erreichen, dass die Beamten die Schlüssel für die Handschellen zurückgeben und sich unverrichteter Dinge zurückziehen. 

Physische Gewalt gegen Personen wird seitens der Flüchtlinge nicht angewendet. An einem Polizeiauto entsteht zwar Schaden, doch dieser ist «nicht so immens», wie ein Sprecher der Polizei Aalen später sagt. Jedoch ist aus juristischer Sicht auch Nötigung eine Form der Gewalt.

«Wir haben eine Situation erlebt, wie wir sie noch nie erlebt haben», sagt Aalens Polizeipräsident Weber später zum Vorfall. Man habe «organisierte Strukturen» gesehen, die sich gezielt der Polizei widersetzt hätten. Die Bewohner hätten die Beamten von strategisch günstigen Positionen beobachtet und sich per Handy abgestimmt. Auch habe es Hinweise auf eine mögliche Bewaffnung gegeben.

Drei Tage später macht die Polizei Ernst: In der Nacht auf Donnerstag rücken Spezialeinheiten an. Hunderte Beamte sind beim Einsatz beteiligt. Sie kontrollieren 292 Bewohner, verhaften acht davon. Waffen findet die Polizei keine. Lediglich «Gegenstände des täglichen Lebens, die auch als Schlagwerkzeuge eingesetzt werden können», so ein Sprecher der Polizei Aalen. Der Verdacht auf «organisierte Strukturen» konnte bis heute nicht erhärtet werden.

Bei der Grossrazzia verletzen sich rund ein Dutzend Bewohner. Einige sollen aus dem Fenster gesprungen sein. Zunächst ist auch von drei verletzten Polizisten die Rede, später korrigiert der Polizeisprecher diese Angabe. Nur ein Beamter sei «verletzt» worden, was genau passiert sei, wolle er nicht bekannt geben. 

Der gesuchte Togolese wird gefunden und in Abschiebungshaft nach Pforzheim gebracht. Von dort erhebt er via Anwalt Vorwürfe an der Vorgehensweise der Beamten in der Nacht der Grossrazzia. Doch dazu später.

Die Reaktionen

Nach Bekanntwerden des Vorfalls in Ellwangen wird dieser sofort breit diskutiert. So beobachtet FDP-Chef Christian Lindner etwa einen «rechtsfreien Raum» in Ellwangen.

Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic will hingegen nicht von einer Kapitulation des Rechtsstaates sprechen. Viel eher hätten die Polizisten besonnen reagiert, sich zunächst zurückgezogen und somit eine Eskalation verhindert. Somit sei ermöglicht worden, dass der Einsatz letzten Endes doch noch auf Basis der geltenden Gesetze hätte beendet werden können.

Grosse Aufmerksamkeit erhält ein Facebook-Post der AfD-Abgeordneten Alice Weidel. Der Rechtsstaat sei «mit den Füssen getreten» worden, so die Oppositionsführerin des Bundestages. Der Eintrag wird fast 13'000 Mal geshared und über 2000 Mal kommentiert. Zum Inhalt der Kommentare nur so viel: Kanzlerin Angela Merkel kommt nicht gut weg.

In Deutschland scheint es in der ersten Mai-Woche kaum ein anderes Thema zu geben. Doch was macht eigentlich der verhaftete Togolese?

Was sagt der Verhaftete?

Dieser sitzt seit vergangener Woche in Abschiebungshaft, wo er von seinem Anwalt Engin Sanli besucht wurde. Dieser sagte gestern gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, dass das Verhalten der Polizei bei der Festnahme unverhältnismässig gewesen sei.

«Viele Polizisten hätten ihn in seinem Zimmer überrascht und an Armen und Beinen festgehalten», so Sanli. «Draussen sollen sie ihn zu Boden gebracht und ihm einen Fuss auf den Nacken gestellt haben.» Das Vorgehen habe seinen Mandanten verstört, so der Anwalt. «Für ihn war das schrecklich, es ging nur um ihn. Dabei wollte er einfach nur nicht nach Italien.»

«Wir haben die Massnahmen getroffen, die wir treffen mussten», sagt dazu am Montag ein Sprecher der Polizei.

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Der Fall Ellwangen
Polizeibeamte führen einen Bewohner der Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen ab.
quelle: epa/sdmg / kohls/sdmg
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Der Inhaftierte sei über den massiven Widerstand der Bewohner selber überrascht gewesen. Er selber habe sich nicht gegen die Abschiebung gewehrt und sei bereits beim Polizeiauto gestanden, als sich die Menge lautstark bemerkbar gemacht habe. Dass sich der Verhaftete bei beiden Einsätzen selbst nicht zur Wehr setzte, hatte die Polizei bereits bei einer Pressekonferenz vergangenen Donnerstag bestätigt. 

Sein Mandant sei total erschüttert gewesen, als er erfahren habe, welche Dimension der Vorfall erhalten habe, so der Anwalt. Er selber habe Morddrohungen erhalten, sagt Sanli, sowohl per Mail als auch in den Kommentarspalten. «Da werden Sachen ausgesprochen, die man sich nicht vorstellen kann.»

Wie geht es weiter?

Das baden-württembergische Innenministerium möchte den Togolesen weiterhin nach Italien abschieben. Sanli wehrt sich jedoch dagegen. Wie der Rechtsstreit ausgehen wird, wird sich weisen. 

Zur Diskussion steht nach dem Vorfall in Ellwangen jedoch nicht nur das Schicksal des Togolesen, sondern die deutsche Asylpolitik im Allgemeinen. Momentan drückt der neue Innenminister Horst Seehofer aufs Gas und will sogenannte «Ankerzentren» für Asylbewerber errichten.

German Interior Minister Horst Seehofer arrives for a press conference where he presents the 2017 German crime statistic in Berlin Tuesday, May 8, 2018. (Kay Nietfeld/dpa via AP)
Horst Seehofer: Der deutsche Innenminister möchte Unterkünfte für 1000 – 1500 Flüchtlinge einrichten.Bild: AP/dpa

In den geplanten Unterkünften soll es Platz für 1000 – 1500 Personen geben. Die Asylverfahren sollen schnell abgewickelt, die Bewohner höchstens 18 Monate hingehalten werden. Der CSU-Politiker hat eine effektivere Abschiebung von Asylbewerbern versprochen.

Doch gegen die geplanten Ankerzentren regt sich Widerstand, der durch die Vorfälle in Ellwangen nochmals lauter geworden ist. Politiker von FDP, Grünen und Linken fordern den Innenminister dazu auf, die Pläne nochmals zu überdenken, oder gleich ganz aufzugeben. Ellwangen habe gezeigt, wie schwierig es sei, Flüchtlinge in grossen Sammelunterkünften unterzubringen. Bei 1000 bis 1500 Menschen in einem Flüchtlingszentrum seien Konflikte fast vorprogrammiert.

Seehofer macht bisher jedoch keine Anstalten, vom eingeschlagenen Kurs abzuweichen. Er nannte die Vorfälle «einen Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung», die mit aller «Härte und Konsequenz» verfolgt werden müssten. 

Gut möglich, dass Ellwangen die deutsche Politik noch eine Weile beschäftigen wird.

Aktuell: Italiens Regierungsbildung gescheitert – Neuwahl 2019

Video: srf
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106 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MaxHeiri
08.05.2018 17:24registriert März 2016
Knapp 500 Personen, vorwiegend aus Nigeria, Kamerun und Guinea wohnen in der sogenannten Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA).
Ich glaube die Mehrheit der Deutschen versteht unter Kriegsflüchtlingen etwas anderes aus Leuten aus Westafrika, die grösstenteils sich als Flüchtlinge ausgeben, obwohl vermutlich wirtschaftliche Gründe vorherrschen. Will Deutschland seine Asylpolitik retten, müsste hier rascher rückgeschafft werden.
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Normi
08.05.2018 17:12registriert April 2016
Man stelle sich vor wie diese Situation in amiland abgelaufenen wäre...
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Snowy
08.05.2018 17:49registriert April 2016
Junge Männer aus Kamerun, Guinea, Togo und Nigeria, welche sich die bis 10K teure Reise leisten können - also Leute, welche aus wirtschaftlichen Gründen migrieren, sind genau der Grund, warum der Rückhalt der Bevölkerung schwindet.

Die Menschen hätten kein Problem Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konventionen aufzunehmen.
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