Martin Schulz war genervt: «Sie können doch das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland nicht daran messen, ob wir gerade die Wahlkampfkasse gefüllt haben», sagte der SPD-Vorsitzende am Montagabend im ARD-«Brennpunkt». Moderatorin Tina Hassel hatte ihn auf Stimmen aus seiner Partei angesprochen, wonach sich die SPD Neuwahlen finanziell nicht leisten könne.
Genau darauf will es Schulz ankommen lassen. «Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht», hatte er Stunden zuvor nach dem Scheitern der Gespräche über eine Jamaika-Koalition von CDU, CSU, FDP und Grünen erklärt. Die SPD stehe angesichts ihres Ergebnisses bei der Bundestagswahl «für den Eintritt in eine grosse Koalition nicht zu Verfügung», betonte Schulz.
Für den Parteichef geht es auch um das persönliche Prestige. Schulz hatte den Sozialdemokraten als Kanzlerkandidat mit einem Stimmenanteil von 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte beschert. Als Konsequenz daraus kündigte er noch am Wahlabend im September den Gang in die Opposition an. An dieser Linie hält der Rheinländer seither eisern fest.
Die Wähler hätten mit dem Wahlergebnis auch einer grossen Koalition eine Absage erteilt, sagte Schulz am Montag erneut. Er kann dabei auf den Rückhalt der Parteispitze zählen. Präsidium und Vorstand stellten sich einstimmig hinter ihren Vorsitzenden. An der Basis aber ist der harte Oppositionskurs keineswegs unumstritten. In der ARD kam eine Bundestagsabgeordnete aus Bayern zu Wort, die sich für eine Fortsetzung der Koalition mit CDU/CSU aussprach.
Andere SPD-Politiker wollen eine erneute Regierungsbeteiligung ebenfalls nicht ausschliessen. Vizekanzler und Aussenminister Sigmar Gabriel würde seinen Job gerne behalten. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dürfte seine Partei mitgemeint haben, als er am Montag erklärte: «Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.»
Steinmeier und Schulz werden sich am Mittwoch zu einem Gespräch treffen. Der Druck auf den SPD-Chef dürfte in den nächsten Tagen weiter zunehmen, denn für viele gilt eine Neuauflage der grossen Koalition als das kleinste Übel. Eine Minderheitsregierung wäre ein riskantes Experiment, und Neuwahlen könnte die Politikverdrossenheit fördern, mit der AfD als grosser Profiteurin.
Die «Süddeutsche Zeitung» hatte sich unmittelbar nach dem Jamaika-Debakel für eine grosse Koalition ausgesprochen. Das Massenblatt «Bild» legte am Montag mit der Forderung «Raus aus der Schmollecke, SPD!» nach. Scharfes Geschütz fuhr der Berliner «Tagesspiegel» auf: Die SPD-Forderung nach Neuwahlen zeuge «von Dekadenz und der Unfähigkeit zum Kompromiss».
Letztlich haben Martin Schulz und seine Partei fast nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Neuwahlen ohne echte Erneuerung in der Opposition könnten zum Rohrkrepierer werden und die SPD weiter schwächen. Und das Experiment grosse Koalition mit Angela Merkel hat für die Partei zweimal mit einer Abstrafung durch die Wählerschaft geendet.
Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma wäre ein Verzicht von Angela Merkel auf das Amt der Bundeskanzlerin. SPD-Politiker liessen durchblicken, in einem solchen Fall für ein neues Bündnis offen zu sein. Die geschäftsführende Bundeskanzlerin bekräftigte jedoch am Montag, sie wolle bei Neuwahlen erneut antreten. Auch die CDU will an Merkel festhalten.
Also bräuchte es andere Anreize. «Bild» stellt der SPD als möglichen Lohn in Aussicht, sie könne «ihre Verhandlungsposition gegenüber der geschwächten Bundeskanzlerin nutzen und wesentliche Teile ihres Parteiprogramms doch noch umsetzen». Einen speziellen Ansatz skizziert der «Stern»: Eine grosse Koalition für nur zwei Jahre, mit vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr 2020.
In der Praxis dürfte sich ein solches Vorhaben nicht so einfach umsetzen lassen, denn die Hürden für Neuwahlen sind in Deutschland hoch, bedingt durch die Furcht vor Instabilität wie zu Zeiten der Weimarer Republik. Allerdings hat eine «halbe» Legislatur durchaus einen gewissen Reiz. Sie könnte Angela Merkel einen Übergang in den Ruhestand ohne Gesichtsverlust ermöglichen.
Für die «Stern»-Autorin ist auch klar, dass sich eine solche «Lösung» nicht mit Martin Schulz realisieren lässt, sondern nur mit Sigmar Gabriel. Über das Schicksal von Schulz, dem viele Sozialdemokraten das Wahldebakel ankreiden, wird am Parteitag vom 7. Dezember entschieden. Dann wird auch der Vorsitzende gewählt. Und danach werden vielleicht die Karten im Regierungspoker neu gemischt.