Seit anderthalb Jahren steht die nationalkonservative polnische Regierung in der EU wegen der Gefährdung der Demokratie am Pranger. Doch Warschau zeigt sich völlig unbeeindruckt und baut die Kontrolle über die Justiz weiter aus.
Seine jüngsten Pläne sehen unter anderem die Entlassung der Landesrichterräte, die für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz zuständig sind, sowie einen grösseren Regierungseinfluss bei der Wahl ihrer Nachfolger vor. Nach Einschätzung von Kritikern könnten über die Justizreform Demokratie und Gewaltenteilung in dem EU-Land ausgehebelt werden.
Timmermans sagte am Mittwoch in Brüssel, sollten die geplanten polnischen Gesetze in der derzeit vorliegenden Form umgesetzt werden, würde dies beträchtliche negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz haben.
Zusammengenommen würden sie die verbliebene juristische Unabhängigkeit gänzlich aufheben und die Justiz unter die vollständige politische Kontrolle der Regierung stellen, sagte er weiter. Er rief die polnische Regierung dazu auf, ihre Reformpläne sofort zu stoppen.
Polens Regierung kündigte eine «konkrete Antwort» auf die Äusserungen der Kommission an. Die Kritik der EU bezeichnete sie als voreilig und ungerechtfertigt. Das Gesetzgebungsverfahren sei noch nicht abgeschlossen, verteidigte das Aussenministerium am Mittwochabend in einer Mitteilung die Reformpläne.
EU-Vizekommissionspräsident Timmermans betonte angesichts der Verschärfung der Situation, dass «Macht der Rechtsstaatlichkeit unterliegen muss». Dies sei auch eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. «Nur so kann die EU zusammenbleiben.» Daher sei die EU-Kommission dazu verpflichtet zu handeln.
Die Brüsseler Behörde will nun «eine umfassende rechtliche Analyse» vornehmen und sich dann bei ihrem Treffen in der kommenden Woche erneut mit der Frage befassen.
Die EU-Kommission hat dann die Möglichkeit, auf zwei Arten zu reagieren: entweder mit einem Vertragsverletzungsverfahren, das am Ende in eine Busse mündet.
Oder aber mit dem dreistufigen Rechtsstaatsverfahren mit Artikel 7 des Vertrages von Lissabon, der im Brüsseler Jargon auch «Atombombe» genannt wird.
Bei diesem Verfahren kann einem EU-Staat, der in schwerwiegender Weise die Grundwerte der Europäischen Union verletzt, als letzte Massnahme das Stimmrecht auf europäischer Ebene entzogen werden – das Zünden der Atombombe. Voraussetzung dazu wäre aber, dass die anderen EU-Länder dieser Massnahme einstimmig zustimmen, was jedoch schwierig werden dürfte.
Gemäss Timmermans steht die EU-Kommission kurz davor, Artikel 7 anzuwenden. Gleichzeitig forderte er die polnische Regierung aber dazu auf, seiner Einladung zu folgen und sich mit ihm zu treffen. «Unsere Hand zum Dialog mit den polnischen Regierenden ist nach wie vor ausgestreckt», sagte er.
Wie es in Polen mit der Justizreform weitergeht, ist zurzeit noch nicht ganz klar. Denn Präsident Andrzej Duda hatte sich am Dienstag überraschend dagegen gestellt. Er verlangte eine Überarbeitung des Gesetzes, mit dem die Regierung ihren Einfluss auf die Besetzung von Richterstellen massiv ausweiten will.
Das Gesetz war bereits vergangene Woche vom Parlament verabschiedet worden, kann aber ohne Dudas Unterschrift nicht in Kraft treten. Unterstützung bekam der Staatschef am Dienstagabend von tausenden Demonstranten.
Unklar ist, wie Dudas Intervention zu werten ist. Denn er gilt als Unterstützer der Nationalkonservativen und hat viele ihrer umstrittenen Reformen bereits durchgewinkt.
Nicht zum ersten Mal gibt es Streit zwischen der EU-Kommission und Polen. Wegen einer vorangegangenen Justizreform hatte die EU-Kommission bereits im Januar 2016 ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet – zum ersten Mal in der Geschichte der EU überhaupt.
Damals ging es um die Beschränkung der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts. Die polnische Regierung hatte nach ihrem Amtsantritt im November 2015 die Ernennung von fünf Verfassungsrichtern rückgängig gemacht. Zudem wurde laut Kommission die Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen erschwert.
Mitte Mai hatte dann erstmals die EU-Staaten über die Lage des Rechtsstaates in Polen beraten. Die anderen EU-Regierungen forderten die EU-Kommission auf, vorerst weiterhin den Dialog mit Warschau zu suchen. (wst/sda/afp/reu/dpa/apa)