Knapp drei Minuten dauert es, sich durch die Todes-Liste zu scrollen. Die Einträge lesen sich alle ähnlich. Todesursache: Ertrinken – Nationalität: Unbekannt – Ort: Mittelmeer.
Gestorben wird überall, aber im Mittelmeer, zwischen Tripolis, Bengasi und der ionischen See, um ein Vielfaches häufiger – das ist die bittere Erkenntnis, die sich aus aus dem Missing Migrants Projects der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ergibt.
Für Aufsehen vermögen die Meldungen aber kaum mehr zu sorgen. Dass in den vergangenen Tagen an der libyschen Küste 133 Leichen angeschwemmt worden waren, war den meisten Medien nur eine Randnotiz wert. Ein Solidaritätsaufmarsch von europäischen Staatschefs, wie er zu Beginn der Flüchtlingskrise in Lampedusa zu Ehren der Gestorbenen stattgefunden hat, ist zweieinhalb Jahre später kaum mehr denkbar.
Dabei wäre es höchste Zeit, dass sich Öffentlichkeit und Politik des Sterbens im Mittelmeer wieder bewusst werden – nicht zuletzt im Hinblick auf die warmen Sommermonate, in denen wieder mehr Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt wagen werden.
Knapp 48'000 Menschen haben seit Jahresbeginn die Überfahrt auf der zentralen Mittelmeerroute gewagt. Das sind etwas weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Route führt noch immer von den gleichen Hotspots nach Italien: Libyen und Ägypten. Die instabile Lage in den beiden nordafrikanischen Staaten – in Libyen beanspruchen zwei Regierungen die Macht für sich, bedrängt vom «IS» und dschihadistischen Splittergruppen – sorgt dafür, dass sich sowohl Menschenschmuggler als auch Migranten oftmals unbehelligt bewegen können.
Obwohl in den ersten fünf Monaten praktisch gleich viele Menschen wie 2015 die zentrale Mittelmeerroute überquerten, ist die Opferzahl markant gestiegen. Kamen im Vorjahreszeitraum 1782 Menschen bei der Überfahrt ums Leben, so waren es 2016 2061 – eine Zunahme von mehr als 16 Prozent.
Joe Millman von der IOM weist darauf hin, dass die Opferzahlen bis vor einigen Wochen unter dem Vorjahreswert lagen: «Wir dachten, dass es sich in diesem Jahr in eine positive Richtung entwickeln würde.» Dann aber schnellten die Zahlen in den letzten Maiwochen in die Höhe. Eine eindeutige Erklärung für den Anstieg hat Millman nicht, sicher sei aber, dass die Schleuser vor allem in Libyen viel rücksichtsloser agieren als früher: «Die zunehmende Kriminalisierung des Landes wirkt sich verheerend auf das Schicksal der Flüchtlinge aus.» Augenscheinlich zeigt sich die zunehmende Skrupellosigkeit der Menschenschmuggler etwa bei der Wahl der Boote: Immer öfter greifen sie für die Überfahrt auf alte Holzkähne und Schlauchboote zurück; die Schiffe sind vielfach hoffnungslos überfüllt.
Mussie Zerai, ein eritreischer Priester, der für seine Unterstützung von in Seenot geratenen Flüchtlingen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, bestätigt diesen Befund: «Letzte Woche haben Schlepper die Überfahrt mit zwei Booten, wovon eines nicht mal einen Motor hatte und einfach mit einem Seil mitgezogen wurde, gewagt.»
Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz sorgte vor einigen Tagen mit einem Vorschlag für Aufsehen. Die Europäische Union sollte sich bei der Bekämpfung der Flüchtlingskrise am australischen Modell orientieren, forderte der 29-Jährige ÖVP-Politiker in einem Interview. Australien weist Migranten auf offener See konsequent ab und führt sie entweder zurück in ihr Heimatland oder interniert sie offshore, um dort ihre Asylvoraussetzungen zu prüfen. NGOs kritisieren die Praxis als menschenrechtswidrig und im Widerspruch zu internationalem Recht.
Die Forderung nach mehr Abschreckung steht stellvertretend für die Haltung der meisten europäischen Staaten. Türkei-Deal, Internierungslager in Libyen, die Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimes: Von einer Willkommenspolitik, wie sie im vergangenen Sommer kurz zelebriert worden war, ist nichts mehr zu spüren. Europa schottet sich immer mehr ab.
Noch immer stammen die meisten Flüchtlinge, die die zentrale Mittelmeerroute nutzen, aus Ländern südlich der Sahara. Im Gegensatz zum ersten Halbjahr 2015 ging die Zahl der Eritreer massiv zurück. Überquerten von Januar bis April 5388 Eritreer das Mittelmeer auf der zentralen Route, so sind es heuer nicht einmal halb so viele. Eine Zunahme ist hingegen bei Migranten aus Gambia, Guinea und Nigeria zu verzeichnen.
Dass nach der Schliessung der Balkanroute nicht mehr Syrer und Afghanen die zentrale Mittelmeerroute wählen, ist laut Joe Millmann vor allem mit der schwierigen Erreichbarkeit des Maghreb-Staates zu erklären. «Die meisten Syrer, die aus ihrem Land flüchten, stecken zuerst einmal in der Türkei fest.» Der IOM-Sprecher schliesst aber nicht aus, dass sich dieses Bild in naher Zukunft ändern wird.
Seit die italienische Marine die Mare Nostrum aus Geldmangel beerdigt hat, sichert die Grenzschutzagentur Frontex im Rahmen der Mission Triton das Mittelmeer. Seenotrettung ist ein Teil der Aufgaben von Triton. Zusätzlich bekämpft die EU mit der Mission Eunavor Med die Menschenhandelstrukturen im Mittelmeer und vor der libyschen Küste im Speziellen. In den letzten Monaten wurden so Tausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Menschenrechtsorganisationen beklagen dennoch das tiefe Budget sowie die einseitige Ausrichtung auf die Abwehr von Migranten der Mare-Nostrum-Nachfolgemissionen.
Neben EU-Schiffen bilden private Initiativen wie etwa Sea Watch einen wichtigen Teil der Seenotrettung im Mittelmeer.
Eine von Europol und Interpol publizierte Studie liess Mitte Mai aufhorchen. 800'000 Migranten warteten in Libyen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt auf das europäische Festland, warnten die internationalen Polizeibehörden. Die Chance, dass sich unter ihnen auch Terroristen befinden, habe zugenommen, so Europol.
Das IOM kommt auf andere Zahlen. «Wir wissen nicht, woher Europol die Zahl von 800'000 Migranten her hat», sagt IOM-Sprecher Millmann. «Nach unseren Berechnungen befinden sich zwischen 236'000 und 260'000 Migranten – vornehmlich aus Westafrika und aus dem Horn von Afrika – in Libyen.»
In den letzten beiden Jahren war in den warmen Sommermonaten eine Zunahme der Mittelmeerüberquerungen zu verzeichnen. Experten rechnen deshalb mit einem erneuten Anstieg in den kommenden Monaten. Eine Voraussage zu treffen sei aber schwierig, so Millmann: «Fakt ist, wir haben aktuell die gleichen Muster wie im Frühling 2014 und 2015.»
Mussie Zerai ist überzeugt: «Dieser Sommer dürfte zu einem der schlimmsten überhaupt werden». Für den Priester, der einst selbst über das Mittelmeer nach Europa geflohen ist, ist klar: «Es muss endlich legale Fluchtwege geben.» Ansonsten gehe das Sterben immer weiter. (dwi/wst)