Kerem Schamberger ist äusserst aktiv auf Facebook. Jeden Tag schreibt er über politische Vorgänge in der Türkei, über kurdische Aktivisten, die verhaftet worden sind, über verschwundene Journalisten, über Anti-Erdogan Demonstrationen. Er übersetzt türkische Zeitungsartikel ins Deutsche und stöbert Nachrichten über Rojava auf, ein de facto autonomes Gebiet in Syrien, in dem die Kurden einen freiheitlichen Staat errichten wollen.
Schamberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Auch ist er linker Aktivist, scharfer Kritiker von Erdogan und ein Unterstützer von kurdischen Anliegen. Facebook ist bei seiner politischen Arbeit das wichtigste Instrument, um Nachrichten zu verbreiten. Auf der Plattform ist der 31-Jährige populär. Er hat 5000 Freunde, das Maximum, das zugelassen ist, und aktuell 15'556 Follower.
Doch seit ein paar Monaten beobachtet er Sonderbares auf seiner Facebook Wall. Begonnen habe es im September, sagt Schamberger. Von einer Woche auf die nächste sei die Zahl seiner Follower und seiner Freunde rapide gesunken. Zuerst seien es ein paar wenige gewesen, dann plötzlich bis zu zweihundert pro Tag.
Das irritierte ihn. Denn in den letzten Jahren sei seine Follower-Zahl täglich um bis zu 50 Personen gewachsen. Den Höchststand habe er letzten Dezember mit über 20'000 Personen erreicht, die seine Beiträge als Follower abonniert hatten.
Als seine Zahlen immer mehr sanken und er sich nicht erklären konnte, warum, begann er das Vorgehen zu dokumentieren. Alle paar Tage machte er Screenshots von seiner Facebook Wall und postete einen Eintrag. In den letzten zwei Monaten verlor er über 5000 Follower.
Auf Anfrage sagt ein Pressesprecher bei Facebook, es gebe mehrere mögliche Szenarien, warum eine Seite Fans oder ein Profil Freunde verliere. So würden doppelte oder falsche Profile laufend gelöscht, was sich im Fan- sowie Follower-Count widerspiegelt. «Unsere automatisierten Systeme identifizieren laufend Profile, die missbräuchliche Aktivitäten auf Facebook vollziehen. Diese Aktivitäten werden dann oftmals wellenartig zurückgesetzt.»
Nun hätte es sein können, dass sich unter Schambergers Freunden und Followern etliche Fake-Profile befanden, die von Facebook aufgestöbert und gelöscht wurden. Vor allem im Vorfeld der deutschen Bundestagswahlen vom 24. September dieses Jahres hat Facebook den Kampf gegen Fake-News und damit auch gegen Fake-Accounts verstärkt. Laut eigenen Angaben hat die Plattform in Deutschland zehntausende falsche Profile entfernt.
Doch bei den Freunden und Follower, die bei Schamberger verschwanden, handelte es sich nicht um solche Fake-Accounts: «Ich wurde täglich von mehreren Personen kontaktiert, die mir sagten, dass sie nicht mehr mit mir befreundet seien oder meine Beiträge nicht mehr abonniert hätten, obwohl sie mich nicht gelöscht haben», sagt Schamberger.
So schrieb ihm beispielsweise Stephan*: «Hallo Kerem, Ich folge dir jetzt seit einiger Zeit über die Abo-Funktion. Jetzt war ich paar Tage im Urlaub und damit kaum bei Facebook. Nun habe ich gesehen, dass mein Abo bei dir weg war. Ich habe das keinesfalls selbst gemacht und vorher öfters Posts von dir geteilt, sodass es auch kein sonderlich ‹stilles› Abo war.»
Can* hat sich auf Facebook schon vor über einem Jahr mit Schamberger befreundet. Er sagt, dass er nach den Hinweisen von Schamberger den Status überprüft habe und plötzlich nur noch Abonnent gewesen sei: «Das ist schon ein merkwürdiges Vorgehen von Facebook, aber ich bin da nicht überrascht, weil Facebook ja versucht, so aalglatt wie möglich zu sein. Da passt es schon ins Schema, Menschen von kritischen Geistern abzutrennen.»
Um herauszufinden, was mit seinen Daten passiert, hat sich Schamberger an den Journalisten Markus Reuter von netzpolitik.org gewandt. Der deutschsprachige Blog wurde schon mehrmals für seine Recherchen im Bereich von digitalen Freiheitsrechten ausgezeichnet. Reuter riet Schamberger, seine gesamten Facebook-Daten herunterzuladen. Auf dieser Grundlage kann überprüft werden, welche Kontakte ihm abhanden kommen.
Doch obwohl Schamberger seine Daten mehrere Male bei Facebook anforderte und obwohl diese normalerweise innerhalb weniger Stunden von der Plattform bereitgestellt werden, erhielt er keine Antwort. Er wirft Facebook vor, dass er als Türkei-kritische Stimme zensiert werde und seine Reichweite bewusst gedrosselt werde.
Diese Kritik will sich Facebook nicht gefallen lassen. Ein Sprecher sagt: «Facebook ist eine neutrale Plattform, die für Offenheit und das Recht auf Meinungsfreiheit steht. Nichts liegt uns ferner, als Herrn Schamberger oder andere zu zensieren.» Warum aber werden Schambergers Daten nicht herausgegeben? «Je nach Datenmenge und Alter der Daten, kann es mehrere Tage dauern, bis der Daten-Report zusammengestellt ist», so der Sprecher.
Eine Recherche zeigt: Schamberger ist keineswegs ein Einzelfall. Mehrere Türkei-kritische Profile sind von dem Entfreundungs-Phänomen betroffen. So auch Özkan P.* Er betreibt die Nachrichtenseite RojavaNews.net und «Kurdische Nachrichten 24» und berichtet dort über Ereignisse in den von Kurden besiedelten Gebieten in der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien.
Seit Mitte des Jahres beobachtet auch er einen massiven Abfall seiner Followerzahlen. «Ich werfe regelmässig einen Blick auf die Statistik meiner Seiten. Seit der Erstellung vor drei Jahren sind die Followerzahlen kontinuierlich gewachsen. Doch jetzt verliere ich bis zu 3000 Follower pro Monat.»
Özkan P. hat bei Facebook nachgefragt, warum seine Followerzahlen sinken. Bisher habe er aber noch keine Antwort erhalten, sagt er. Wie bei Schamberger haben sich auch bei ihm Freunde gemeldet, die sagen, ihnen werde angezeigt, dass sie seinen Seiten nicht mehr folgen. Dies obwohl sie diese nicht selber entliked hätten.
Eine weitere Seite, die mit Followerverlust kämpft, ist die Seite «Kurdische Nachrichten – Nûçe – News». Auch hier werden über kurdische Anliegen berichtet. Der Betreiber schreibt auf Facebook: Innerhalb einer Woche haben wir 1000 Abonnenten verloren. Auch hier melden sich Personen, die bemerkt hätten, dass sie die Seite plötzliche nicht mehr abonniert haben, ohne sie jedoch disliked zu haben.
Gleich geht es auch der Seite «Forum für Aleviten».
Mit Özlem Alev Demirel ist auch eine Politikerin von seltsamen Facebook-Vorgängen betroffen. Bei der Landtagswahl trat sie als Spitzenkandidatin für die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen an. Auf Facebook schreibt sie:
Kerem Schamberger hat zwei Thesen für das Verschwinden der Follower und Freunde. Einerseits könne er sich vorstellen, dass im Zuge der Bekämpfung von Fake-News auch Türkei-kritische Seiten in ihrer Reichweite eingeschränkt worden seien. Andererseits könne es sein, dass in den Zentralen von Facebook Türken arbeiten würden, die Zugriff auf solche Löschvorgänge hätten. «Natürlich sind das nur Mutmassungen», schiebt er nach.
Alles Quatsch, heisst es von Seiten Facebook. «Wir haben Experten, die auf die Community Standards von Facebook geschult sind und jede Meldung zu einem Beitrag oder einem Profil prüfen», sagt ein Sprecher. Wie oft ein Profil oder ein Beitrag gemeldet werde, sei für die Entscheidung, wie damit umzugehen ist, nicht von Bedeutung. Einzig zähle, ob gegen die Gemeinschaftsstandards verstossen werde oder nicht.
Auch Markus Reuter von netzpolitik.org hat keine Erklärung für das mysteriöse Verschwinden der Follower. Er sagt aber: «Ein grosses Problem bei solchen Phänomenen ist die Intransparenz von Facebook. Angesichts dieser ist unklar, ob einfach nur der Algorithmus verrückt spielt oder ob es sich um gezielte Massnahmen gegen kurdische Personen und Organisationen handelt, wie einige Nutzer und Betroffene auf Facebook vermuten.» Für die Betroffenen bleibe bislang nur die Erkenntnis, dass sie um ihre Reichweite gebracht werden und nicht wissen, warum. «So etwas ist bei einer so marktdominanten Plattform äusserst unbefriedigend, denn für viele Menschen ist Facebook die wichtigste Möglichkeit, Öffentlichkeit herzustellen.»
*Namen der Redaktion bekannt.