Ein Hotel, irgendwo in Solothurn. Vor dem Fenster fliesst die Aare, sie ist blind vor Kälte. Irgendwo mag es warm sein. Irgendwo mögen Menschen glücklich sein. Der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl hat soeben eine Laudatio auf ein Schweizer Dokfilm-Projekt gehalten. Dessen Arbeitstitel: «Angst». Angst passt. Denn kurz nach unserem Treffen wird in einem andern Land, jenseits eines eisig kalten Ozeans, Donald Trump vereidigt. Whisky brennt sich seinen Weg durch unsere Kehlen.
Herr Seidl, es ist
kurz nach 14 Uhr, wir trinken Whisky. Machen Sie das öfter?
Auch schon früher. Aber nicht immer.
Sind Sie in dieser
Hinsicht ein grosser Genussmensch?
Nachdem mein Leben ja aus Arbeit besteht, denk ich, soll man
auch geniessen. Und um die Ernsthaftigkeit auszuhalten, bedarf es des Humors
und der Lebensfreude.
Jetzt vielleicht noch
ein bisschen mehr als sonst?
Was meinen Sie?
Trump ist an der
Macht.
Der hat nur mit mir nicht wirklich was zu tun. Das ist nur
ein Zufall. Die Situation, wie sie auch ist in der Welt, bahnt sich ja schon
seit längerem an und spitzt sich immer mehr zu. Wenn man die Augen offen hält
und in der Vergangenheit offen gehalten hat, dann weiss man ja, was sich tut.
Wie weit zurück
meinen Sie mit «in der Vergangenheit»?
Die Welt war nie in Ordnung. Ich hab ja in all meinen Filmen
immer schon Stellung bezogen zu der Wirklichkeit. Zu meiner Wirklichkeit, zur
Wirklichkeit Österreichs, zur Wirklichkeit Europas, zur Wirklichkeit einer
westlichen Gesellschaft. Insofern bedarf es für mich nicht schrecklichster
Ereignisse, um darüber was sagen zu können. Die Welt hat sich so dramatisch
geändert, wie man sich das vor zehn, zwanzig Jahren nicht hätte ausdenken
können.
Überhaupt nicht?
Ich bin ja in der Nachkriegsgeneration aufgewachsen, und für uns war
damals völlig klar, es wird nie wieder Krieg geben. Es wird eine bessere Welt
geben. Wir sind völlig zuversichtlich aufgewachsen, weil wir dachten, das
Schreckliche liegt hinter uns.
Für immer?
Ja. Aber das Schreckliche ist, zu erkennen, dass der Mensch,
was die Geschichte anbelangt, nichts dazu lernt. Dass der Mensch ein kurzes
Gedächtnis hat. Und wenn ich mir meine Kinder heute anschaue, dann wachsen die
in einer andern Welt auf, nämlich in keiner zuversichtlichen Welt, sondern in
einer Welt voller Gefahren, wo alles passieren kann. Wo vor allem Krieg schon
passiert und sich wahrscheinlich noch mehr verbreiten wird.
Ich habe zwei Bücher ihres Landsmannes Joseph Roth
wieder gelesen, «Radetzkymarsch» von 1932 und «Die Kapuzinergruft» von 1938, und
ich dachte: Fuck, er beschreibt heute! Statt der EU erodiert die K.u.k.-Monarchie von ihren
armen Rändern her, die Wohlhabenden betreiben den schlimmsten Kasinokapitalismus, alle warten lethargisch auf den grossen Knall.
Ich glaube nicht, dass heute alle auf den grossen Knall
warten. Letztendlich will es keiner wahrhaben und nichts tun.
Prost.
Prost. Die Politik versagt in jeder Richtung, aber das schon
lange. Sie hat sich sozusagen der Wirtschaft untergeordnet und das war schon
einmal der Anfang dieser schrecklichen Entwicklung. Es kommt ja nicht von
ungefähr, dass der Kapitalismus, der völlig unmenschlich und nur auf Profit
ausgerichtet ist, die eigene Gesellschaft zerstört.
Trotzdem hatten wir
am 4. Dezember 2016 das Gefühl, dass aus Österreich ein Signal der Hoffnung und
des Widerstandes kommt.
Was war am 4. Dezember?
Alexander Van der
Bellen wurde zum Bundespräsidenten gewählt. Man hatte sich ja bei den
amerikanischen wie bei den österreichischen Wahlen das Gegenteil dessen ausgerechnet,
was eingetreten ist. Also: Die USA wählt Clinton, Österreich wählt Hofer.
Das heisst das grössere Übel ist Wirklichkeit geworden, das
kleinere hat sich nicht bewahrheitet!
Genau. Was im Zusammenhang des grossen Weltgeschehens
natürlich nichts nützt. Was kann ein Van der Bellen zwischen Putin, Trump,
Marine Le Pen und der AfD schon ausrichten?
Das ist völlig uninteressant. Es war nur für die eigene
Seele gut.
Auch für Ihre?
Ja, aber wissend, dass das nicht vorbei ist. Das wird die
FPÖ nicht stoppen. Die Entwicklung ist nach wie vor beängstigend, und die
Politik ist hilflos. Es gibt keine Rezepte. Ursachen gibt’s immer viele, aber
ich glaube, letztendlich hat’s auf der einen Seite mit dieser wirtschaftlichen
Entwicklung und dem zügellosen Turbokapitalismus zu tun. Auf der andern Seite
mit der Digitalisierung der Welt. Durch das Internet sind ganz neue Dinge
möglich, die unkontrollierbar geworden sind. Die Technik gibt uns etwas an die
Hand, und wir können damit gar nicht umgehen. Plötzlich entstehen so innerhalb
einer Gesellschaft unfassbare, unwürdigste Dinge.
Und Lügen haben
plötzlich einen faktischen Wert. Einfach, weil sie da sind.
Und man nimmt gar nicht Schaden daran, wenn man lügt! Früher
sind Leute der Lüge überführt worden. Aber heute lügt man schamlos, und wenn
der andere was dagegen setzt, bedroht man sein Leben.
Ist es nicht
verheerend, wie sehr eine Figur wie Trump ihren perversen Unterhaltungswert
hat? Das ist doch, als wäre einer direkt aus dem «Dschungelcamp» ins Weisse Haus
gekommen.
Trump war eine Witzfigur, ein Fressen für die Medien. An
dieser Entwicklung der Welt sind die Medien massgeblichst beteiligt, weil sie
ja auch kommerziell gesteuert sind und deshalb gezielt versuchen, gewisse
Dinge ins Spiel zu bringen. Man kann darüber reden, aber eine Wirkung hat es
keine.
Alle prominenten Kulturschaffenden und viele, viele Menschen protestieren gegen ihn. Was nützt
das?
Nichts. Es nützt nichts. Die Gesellschaft ist und bleibt
gespalten. Das ist eine endlose Reihe an Gefahren und Realitäten, die jetzt auf
uns zukommen. Man kann irgendwo anfangen. Man kann auch demographisch anfangen.
Es ist von der Geschichte her unvermeidbar, dass Europa verliert. Es ist
unvermeidbar, dass dieser Westen zugrunde geht. Ich finde es fürchterlich, aber
es ist unvermeidbar. Schon nur von der Masse an Menschen her gesehen, die
nichts zum Essen und nichts zum Leben haben. Unser Wohlstand geht zu Ende.
Macht Ihnen das Angst
oder sind Sie einfach resigniert?
Ich hab Angst um meine Kinder, das ist ja ganz klar. Es wäre
ja auch nicht zu spät, aber die Wirtschaft hat keine Einsicht. Wir müssten
unser Wirtschaftssystem anders strukturieren. Wir müssten weniger machen und
nicht noch immer mehr und mehr. Wir müssten damit aufhören, immer dorthin zu
gehen, wo es die am billigsten auszubeutenden Arbeitskräfte gibt, diesen alles
wegzunehmen und ihnen unsere eigenen Billigprodukte zu verkaufen. Es ist doch
pervers, dass man in Afrika Milch aus Holland trinken muss.
Können wir überhaupt irgendwas tun?
Ich glaube, eine
Revolution ist notwendig. Aber die Leute wollen keine Revolution. Als die Bankenkrise
in Europa war, ist auch keiner aufgestanden und auf die Strasse gegangen. Der
Steuerzahler liess sich zweimal betrügen: Einmal, indem man ihm sein Geld
weggenommen hat, und einmal, indem man mit seinen Steuern die Banken saniert
hat. Das ist ein Zynismus der besonderen Art.
Absolut. Aber gerade
in der Schweiz habe ich das Gefühl, dass sich der Steuerzahler wahnsinnig gerne
betrügen lässt: Meist stimmen die Leute bei Volksabstimmungen gegen ihre
eigenen Interessen. Einfach, weil man Ihnen erfolgreich weismachen kann: Du
könntest etwas verlieren.
Aber wir müssen was verlieren! Das ist doch die einzige
Möglichkeit! Die Ungerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft hat sich
immer gerächt, hat immer in Umstürzen gemündet. Irgendwann einmal kommt es zu
einem Ende.
Wenigstens haben wir
noch ein Glas Whisky zu trinken.
Ja.
Ende.