Ich gebe es zu: Ich kann nicht behaupten, dass ich mich in letzter Zeit intensiv mit Italien beschäftigt habe. Und doch glaubte ich, mein Wissen reiche aus, um den Zettel auszufüllen, der nun schon seit einigen Tagen unberührt auf meinem Pult liegt. Weit gefehlt.
Als Auslanditalienerin darf ich mich an den Wahlen in unserem Nachbarland beteiligen. In den vergangenen Jahren war dies einfach: Wer nicht Berlusconi wählen wollte, hat seine Stimme in der Regel den Demokraten, dem Partito Democratico oder einer kleineren Linkspartei gegeben. Doch dieses Mal ist alles viel komplizierter.
Meine Verzweiflung beginnt kurz nach dem Öffnen der Wahlunterlagen. Ich nehme zwei farbige zusammengefaltete Zettel aus dem Couvert. Zwei Zettel, je einer für den Senat und für die Abgeordnetenkammer, alles klar. Ich entfalte sie und starre ratlos auf das Papier. Da sind Parteien, von denen ich noch nie gehört habe, Wahlbündnisse, die mir völlig unbekannt sind. Noi con l'Italia? Più Europa? Movimento delle Libertà? Civica Popolare? Keine Ahnung, keinen blassen Schimmer.
Das Internet hilft. Zumindest ein bisschen. Es ist das erste Mal, dass das neue Wahlgesetz zur Anwendung kommt. Nachdem der Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi (Partito Democratico) mit seiner Verfassungsreform Ende 2016 scheiterte, musste er abtreten. Der Aussenminister Paolo Gentiloni wurde sein Nachfolger und musste eine Wahlreform durch das Parlament pauken, die sich immer mehr aufgedrängt hatte. Die Parteien lagen sich monatelang in den Haaren, wie das neue Gesetz auszugestalten sei. Erst im Oktober vergangenen Jahres einigte man sich auf einen Kompromiss und stimmte dem sogenannten Rosatellum-Gesetz zu.
Das System, mit dem am Sonntag die
neue Regierung gewählt werden soll, ist dermassen kompliziert, dass
selbst die Italiener nicht richtig verstehen, wie es funktioniert. Auch SP-Politiker und italienischer Doppelbürger Corrado Pardini sagte kürzlich in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, weder er noch seine gut ausgebildeten Freunde in Italien seien in der Lage, das Wahlsystem ganz zu verstehen. Es ist eine Mischung aus einem Proporz- und Majorzsystem mit halb offenen und halb geschlossenen Listen.
Immerhin bei den wichtigsten Parteien und Koalitionen gewinne ich langsam einen Überblick. 38 Parteien treten insgesamt zur Wahl an. Für die Sitze, die proportional verteilt werden, müssen die Parteien mindestens drei Prozent erreichen und die Koalitionen mindestens zehn Prozent. Viele kleine Gruppierungen haben sich darum einem grösseren Bündnis angeschlossen.
Doch keine Partei, kein Bündnis vermag mich so richtig zu überzeugen. Streitereien, Skandale, Absplitterungen haben die Parteien geschwächt. Die Wahlversprechen klingen abgedroschen; es fühlt sich an, als müsste ich zwischen Pest und Cholera entscheiden.
In einer Mitte-Links-Koalition tritt die Noch-Regierungspartei Partito Democratico (PD) an, die in den letzten fünf Jahren das Land regiert hatte. Ihr Spitzenkandidat ist der ehemalige Ministerpräsident Matteo Renzi. Unterstützt wird die PD von diversen Bündnispartnern. Darunter die Bewegung Civica popolare, die Liste Italia – Europa Insieme und das Bündnis Più Europa.
Die PD leidet aber unter ihrem schlechten Image. Unter Renzi hat sich die Situation von vielen Italienern in den letzten Jahren eher verschlechtert denn verbessert. Die Steuern sind hoch, die Löhne tief und die Arbeitslosigkeit ist vor allem bei jungen Italienern ein grosses Problem.
Angetreten ist Renzi damals als Rottamatore, als Verschrotter der alten politischen Kaste und Erneuerer der politischen Kultur in Italien. Doch vor allem seine Arbeitsmarktreform, die sogenannte Jobs Act, brachte ihm von Seiten des linken Parteirandes viel Kritik ein. Viele verliessen die PD unter Protest.
Als Abspaltung zur PD entstand vor wenigen Monaten das Bündnis Liberi e Uguali (die Freien und Gleichen). Es besteht aus drei linken Parteien und wird vom ehemaligen Staatsanwalt Pietro Grasso angeführt. Renzi gelang es vor den Wahlen nicht, sich mit ihm zu einigen und in sein Wahlbündnis zu integrieren. Damit treten Liberi e Uguali als Konkurrenz gegen die PD an.
Ohne Koalition tritt die Partei MoVimento 5 Stelle an (M5S). Das grosse V im Namen steht dabei für «vaffanculo», zu Deutsch «leck mich». Als der landesweit bekannte Comedian Beppe Grillo 2007 den «Vaffanculo-Day» ausrief, folgten ihm Tausende auf die Strassen, um auf das politische Establishment zu schimpfen. Es war die Geburt einer neuen Protestbewegung, die sich damals weder links noch rechts einordnen wollte und gerade deshalb auch für viele junge Leute, die der chaotischen Politik in ihrem Land überdrüssig geworden sind, attraktiv war.
Heute gilt die M5S als europakritische, populistische Internetpartei, die vor allem über ihre Kanäle in den Sozialen Medien zu mobilisieren vermag. Gerne wird Kritik an der eigenen Linie, oder Informationen, die nicht mit der Verbreitung der eigenen Inhalte übereinstimmen, als Fake News abgetan. Gleichzeitig halten es die «Grillisti» mit der Wahrheit selbst nicht immer so genau.
Als Spitzenkandidat wurde Luigi di Maio bestimmt. Meinungsforscher räumen dem M5S am Sonntag gute Chancen ein. Derzeit betrage ihr Wähleranteil rund 30 Prozent, was sie zur stärksten Einzelpartei macht.
Eine Mitte-Rechts-Koalition bilden die rechtspopulistische Parteien Lega Nord von Matteo Salvini, die nationalkonservativen Fratelli d'Italia von und Forza Italia von Giorgia Meloni und die konservative Forza Italia von Silvio Berlusconi.
Berlusconi? Richtig gelesen, Berlusconi. Der inzwischen 81-Jährige hat noch immer nicht genug. Es ist nun das siebte Mal, dass er zum Wahlkampf antritt, viermal war er bereits Ministerpräsident und jetzt will er nochmals bis ganz nach oben. Und dies, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit ganz unten angekommen war.
Er führte sein Land 2011 direkt an den Abgrund, die Schuldenberge wurden immer grösser, Berlusconi versuchte die Krise mit leeren Worthülsen und gebleachten Zähnen fortzulächeln. Der «Bunga Bunga»-Skandal mit Ruby Rubacuori schadete der Show des Cavaliere nachhaltig. Definitiv zu Ende war es für Berlusconi, als er 2013 vom höchsten Gericht in Italien wegen Steuerbetrug verurteilt wurde.
Doch jetzt hat er sich zurückgekämpft. Mit demselben strahlenden Lächeln und noch dichterem Haar verspricht er das Blaue vom Himmel, dass er sich um die Rentner kümmern werde, die Steuern senken wolle, den Leuten die Würde zurückgeben wolle. Die Chancen für das rechtsbürgerliche Bündnis stehen nicht schlecht. Laut Politologen könnten die drei Parteien um Berlusconi bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen bekommen. Weil Berlusconi selbst jedoch immer noch vorbestraft ist, darf er vorerst nicht Ministerpräsident werden.
Weitere Parteien auf der Liste sind unter anderem die faschistischen CasaPound Italia und Italia agli Italiani, die kommunistische Partito Comunista oder die liberale Partito Repubblicano Italiano.
Zwar habe ich jetzt einen Überblick über die wichtigsten Parteien, jedoch fällt mir auf, dass insbesondere eine Gruppe, die in den vergangenen Wochen immer wieder für Aufsehen sorgte, auf meinem Wahlzettel fehlt: Die Potere al Popolo.
2015 besetzten Aktivisten ein ehemaligen Psychiatriegefängnis in Neapel. «Je so' pazzo», nannten sie es, übersetzt bedeutet das: «Ich bin verrückt». Als sich abzeichnet, dass die Partito Democratico mit Renzi für viele Linke nicht mehr wählbar ist, zudem die Partei mit der neuen Liberi e Uguali zunehmend zerbröckelt, beschliessen die Aktivisten in Neapel in die Bresche zu springen. Ihr Ziel: weniger Ungleichheit, Frauenrechte, Umweltschutz, ein soziales Europa und die Aufhebung von Renzis Arbeitsmarktreform.
Das «Je so' pazzo» wird zum verrückten Aufstand. Im November 2017 wird aus der Bewegung die Partei Potere al Popolo. In ganz Italien bilden sich innert kürzester Zeit über 150 neue Ortsparteien. Schnell sind die nötigen Unterschriften gesammelt, um bei den nationalen Wahlen antreten zu können. Der Kopf der Gruppe, Viola Carofalo, jettet seither durch das Land, hält Reden, bestreitet Fernsehauftritte – und ist mit ihrer Propaganda extrem erfolgreich. Politologen sagen, es sei nicht unwahrscheinlich, dass die linksradikale Potere al Popolo den Einzug ins Parlament schaffen könnte.
Alles klar? Nicht ganz, aber zumindest ein wenig klarer. Noch immer fällt es schwer, bei den chaotischen Zuständen in Italien den Überblick zu behalten. Vor allem, weil sich die Ereignisse in den letzten Wochen vor den Wahlen überschlugen. Begonnen hat es mit einem einer Schiesserei in der Stadt Macerata Anfang Februar. Ein Neonazi schiesst aus seinem Auto heraus wahllos auf eine Gruppe dunkelhäutiger Männer. Die grosse Empörung über die Tat bleibt aus, nur wenige verurteilen, was geschehen ist.
Die Potere al Popolo rufen zum Protest auf, mobilisieren nach Macerata und verurteilen den rassistisch motivierten Gewaltakt. Wenige Tage danach wird ein Parteimitglied in Perugia von Faschisten mit dem Messer angegriffen und verletzt, während er Wahlplakate anbringen wollte. In Palermo* wird daraufhin der Chef der rechtsextremen Organisation Forza Nuova am helllichten Tag gefesselt und verprügelt. Wer hinter dem Angriff steckt ist unklar. In linken Kreisen heisst es, der Angriff sei von Faschisten selbst durchgeführt und inszeniert worden.
Dass nun mit den Wahlen am Sonntag wieder Ruhe ins Land einkehren wird, glauben die wenigsten. Im Gegenteil gehen derzeit viele Politologen davon aus, dass es mit dem neuen Wahlgesetz und den zersplitterten Parteien nicht möglich sein wird, eine Mehrheit im Parlament bilden zu können. Wird sich dies bewahrheiten, dürfte es auf Neuwahlen im Oktober herauslaufen.
«Che casino» – welch ein Durcheinander! Nachdem ich mich durch die Berge von Informationen gewühlt habe und endlich bereit bin, meinen Wahlzettel auszufüllen, sehe ich: Ich bin zu spät! Ich hätte mein Couvert bis am 1. März abgeben sollen.
*In einer ursprünglichen Version des Artikels hiess es fälschlicherweise, der Angriff auf den Chef der Forza Nuova habe in Neapel stattgefunden.