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Katalonien feiert und fürchtet

epa06292722 An aerial view shows thousands of people gathering near the Catalan regional Parliament to show their support to a possible independence proclamation during the regional Assembly's pl ...
Bild: EPA/EFE

Katalonien feiert und fürchtet

Das Parlament in Barcelona proklamierte die Republik. Die katalanische Bevölkerung fragt sich: was nun?
28.10.2017, 10:19
Pascal Ritter aus Barcelona / Schweiz am Wochenende
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Nur eine Stunde nach dem grossen Moment war es eigenartig still in den Strassen Barcelonas. Hunderte Menschen standen in Gruppen vor den Absperrungen zum Parlament und prosteten sich zu. Es sah aus wie nach dem Ende eines Rockkonzertes, wenn die letzten Fans einfach nicht nach Hause gehen wollen.

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hat eine grosse Routine im Abhalten von Demonstrationen. Am katalanischen Nationalfeiertag knackten sie in letzter Zeit regelmässig die Millionenmarke. Auch diesen Freitag sind tausende Menschen gekommen und haben die gelbe Flagge mit den vier roten Streifen geschwenkt. Doch im Vergleich zur historischen Dimension dieses 27. Oktober 2017 waren es eher wenige. Der Freitag wird in die Geschichte eingehen als Tag, an dem die spanische Flagge vom katalanischen Parlamentsgebäude eingeholt wurde – auch wenn vorerst die katalanische dort ebenfalls nicht mehr weht.

Pro-independence supporters cheer in the square outside the Palau Generalitat in Barcelona, Spain, after Catalonia's regional parliament passed a motion with which they say they are establishing  ...
Eine Separatist feiert am Freitag, 27. Oktober.Bild: AP/AP
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«Si, Si, Si, No, Si, Si, Si»

Um 15:20 Uhr wehte sie noch. Im Innern des Gebäudes stieg die Spannung ins Unermessliche. Das Parlament hatte in geheimen Wahlen über die Unabhängigkeit abgestimmt. Dann nahm die Parlamentspräsidentin Carme Forcadell, eine Ikone der Unabhängigkeitsbewegung, jeden einzelnen Stimmzettel aus der Urne und las vor, was draufstand. «Si, Si, Si, No, Si, Si, Si». Die Journalisten, die in Hundertschaften in den Gängen und Übertragungsräumen herumlungerten, machten Striche auf ihren Notizblock oder hackten auf ihre Laptops ein. Am Schluss waren es siebzig Ja- und zehn Nein-Stimmen. Zwei hatten leer eingelegt.

Die Opposition hatte zu diesem Zeitpunkt das Parlament bereits verlassen. Wutentbrannt war Xavier García Albiol, ein zwei Meter Hüne, über den Marmorboden gestampft. «Das ist ein Skandal», bellte der Präsident des katalanischen Ablegers des Partido Popular in die Kameras. Sein Parteikollege und Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte am Morgen in Madrid den Tarif durchgegeben. Er sprach vor dem Senat, der vergleichbar ist mit dem Ständerat, und warb für die Anwendung des Artikels 155 der Verfassung. Er kommt zum Zug, wenn autonome Regionen gegen ebendiese Verfassung verstossen. Angewandt wurde er bisher noch nie.

Rajoy hielt eine Rede an die Nation, die Senatoren musste er ohnehin nicht mehr überzeugen. Der Partido Popular hält die absolute Mehrheit im Senat. Rajoy geisselte die katalanische Regierung mit scharfen Worten. Das Unahängigkeitsreferendum vom 1. Oktober sei illegal gewesen. Einen echten Dialog hätte Puigdemont nie gewollt, sondern immer nur über die Konditionen der Abspaltung verhandeln wollen. Darum gebe es keine Alternative zur Entmachtung der Regionalregierung. Dennoch wartete der Senat die Sitzung des katalanischen Parlaments ab.

Puigdemont weicht vor Reportern zurück

Dann war es soweit. Die Parlamentspräsidentin Forcadell verkündete die Annahme der Vorlage. Damit beschloss das Parlament «die katalanische Republik als unabhängigen, souveränen, rechtsstaatlichen, demokratischen und sozialen Staat» zu konstituieren. So stand es in der Eingabe, auf die sich das Regierungsbündnis «Junts pel Si» und die antikapitalistische Koordination für die Volkseinheit (CUP) am morgen geeinigt hatten. Die beiden Parteien haben eine hauchdünne Mehrheit im Parlament. Damit war die Sitzung auch gleich beendet und die verbliebenen Parlamentarier stimmten die katalanische Nationalhymne «els Segadors» an.

Catalan President Carles Puigdemont, center, Vice President Oriol Junqueras, left, and Carme Forcadell, the parliament president, sing the Catalan anthem inside the parliament after a vote on independ ...
Anstimmen der katalanischen Hymne.Bild: AP/AP

Im Parlamentsgebäude brach Hektik aus. Präsident Puigdemont trat aus dem Saal und wurde sofort derart von Reportern belagert, dass er zurückwich, noch einmal quer durch den Saal lief und auf der gegenüberliegende Seite wieder herauskam. Die Parlamentarier lagen sich in den Armen. Tränen flossen. Am meisten bei der linksradikalen CUP.

Puigdemont wurden von mehreren Dutzend Bürgermeistern empfangen, welche im Lichthof des Parlaments auf die Entscheidung gewartet hatten. Als sie ihn erspähten, reckten sie ihre typischen hölzernen Stäbe, eine Art Zepter, in die Höhe und skandierten «President, President!» Auch vor den Bildschirmen, die draussen jenseits der Sicherheitsabsperrungen aufgebaut worden waren, lagen sich die Menschen in den Armen. Dann zogen einige vor den Regierungspalast im Zentrum und feierten. Die meisten aber schlenderten nach Hause. Hier und dort ertönte noch ein «Visca la Repùblica!», es lebe die Republik.

Schwierige Tage stehen bevor

Einer der noch blieb war Fernando. Unermüdlich preist er gelb-rote Feuerzeuge und katalanische Wimpel an. Er ist unzufrieden. So schlecht wie heute sei es noch nie gelaufen. Er habe kaum etwas verkauft. Fernando ist 49 Jahre alt und sagt, er sei seit 20 Jahren an den Demonstrationen der Separatisten dabei. Er hat eine Erklärung, warum sein Geschäft ausgerechnet an diesem historischen Tag schlecht läuft. «Früher kauften die Leute Fahnen, um zu zeigen: Wir sind eine Nation, wir wollen einen eignen Staat.» Jetzt hätten sie, was sie wollten und brauchten keine Fahnen mehr. Doch so einfach ist es nicht.

Die Zentralregierung in Madrid wird alles tun, um die Abspaltung Kataloniens doch noch zu verhindern. Der Senat nickte den Artikel 155 ab. Präsident Rajoy erklärte die katalanische Regierung und das Parlament am späten Freitagabend für aufgelöst und setzte Neuwahlen auf den 21. Dezember an. Auch das Erziehungsdepartement, die Regionalpolizei und die öffentlichen Medien könnten von Madrid übernommen werden.

Auf die Bevölkerung in Katalonien kommen schwierige Tag zu. Dass die Verunsicherung gross ist, zeigte sich bereits am Donnerstagabend an einer Versammlung der Separatisten in einem Aussenquartier. Eine Abgeordnete des Regierungsbündnis «Junts pel Si» war gekommen, um die Ängste und Bedenken der Bürger zu hören. Es kamen so viele Menschen, dass die Veranstaltung in zwei Schichten abgehalten werden musste. Die meisten im Saal waren überzeugt von der Unabhängigkeit. Doch in ihren Fragen spiegelte sich die unsichere Zukunft der Republik Katalonien: Werden weitere Firmen das Land verlassen? Können wir uns auf die Mossos, die Regionalpolizei, verlassen? Gibt es Länder, die uns anerkennen werden?

«Für die EU ändert sich nichts»
Da bleibt kaum Interpretationsspielraum: «Für die EU ändert sich nichts. Spanien bleibt unser einziger Ansprechpartner» – dies der Kommentar von EU-Ratspräsident Donald Tusk zur katalonischen Unabhängigkeitserklärung. Immerhin: «Ich hoffe die spanische Regierung setzt auf die Stärke des Arguments und nicht das Argument der Stärke», so Tusk. Damit bleibt Brüssel der Linie treu, die es seit Monaten fährt: Katalonien ist eine innerspanische Angelegenheit. Wie soll es auch anders sein: Die EU ist das Projekt ihrer Mitgliedstaaten – sie kann sich per se nicht an deren Auflösung beteiligen.Erst vergangene Woche erteilten die EU-Staats- und Regierungschefs Mariano Rajoy quasi einen Freibrief für die Auslösung von Artikel 155. Die Unterstützung für Madrid sei «parteiübergreifend», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel stellvertretend für ihre Kollegen. Die grösstmögliche Solidaritätsbekundung mit Barcelona kam von Belgiens Premierminister Charles Michel, der im eigenen Land (und sogar in der eigenen Regierung) mit den Separatisten aus Flandern zu kämpfen hat. So mahnte Michel: «Eine politische Krise kann nur im Dialog gelöst werden. Wir fordern eine Lösung im Einklang mit nationalem und internationalem Gesetz».
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