Dear citizens of the United Kingdom,
Jetzt ist es passiert. Eure Regierung hat den Brexit in Gang gesetzt und den Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union in Brüssel deponiert. Für die Brexit-Befürworter kann die zweijährige Verhandlungsfrist bis zum endgültigen Ende der EU-Mitgliedschaft nicht schnell genug ablaufen. «Freedom!», titelte Euer Schrottpresse-Erzeugnis «Daily Mail».
Rule, Britannia! Britannia rule the waves; Britons never will be slaves.
So heisst es im Refrain Eurer inoffiziellen Nationalhymne. Und so soll es nach dem Willen der «Brexiteers» wieder werden. Ein aus der europäischen «Sklaverei» befreites Britannien soll nicht gerade die Meere beherrschen, wie in der guten alten Empire-Zeit, aber wieder ein Global Player werden. Und damit in ein neues, goldenes Zeitalter der Prosperität eintreten.
Nicht alle teilen diesen Enthusiasmus. Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times», sieht für sein Land keine erfreuliche Perspektive ausserhalb der EU: «Das Königreich wird ärmer, gespaltener und weniger einflussreich sein.» Man lebe nicht mehr im 19., sondern im 21. Jahrhundert. «Die Isolation wird nicht ‹splendid› sein – es wird Isolation sein», meint Wolf.
Als Bürger eines Nicht-EU-Landes kann ich feststellen: Ja, es gibt ein Leben ausserhalb der Union. Es muss nicht einmal schlecht sein. Aber einfach ist es nicht. Die Schweiz hat in den letzten Jahren erfahren müssen, dass das Leben in der Isolation hart sein kann, besonders wenn man von den Mächtigen in den Schwitzkasten genommen wird.
Ihr spielt in einer etwas höheren Liga und verfügt vor allem in der Sicherheitspolitik über Trümpfe, die Eure Regierung offenbar ausspielen will. Aber im Unterschied zu Euch waren wir nie EU-Mitglied. Es ist einfacher, von aussen den Anschluss zu suchen, als sich aus einer derart engen Allianz herauszulösen. Ein hässlicher Scheidungskrieg ist nicht ausgeschlossen.
Ein Aspekt spielt dabei eine zentrale Rolle. Die «Rest-EU» ist euer wichtigster Handelspartner – etwas, das wir gemeinsam haben. Und daran wird sich nach dem Brexit so schnell nichts ändern. Geographische und kulturelle Nähe sind auch in der globalisierten Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Eure Premierministerin Theresa May ist sich dieser Tatsache bewusst.
«Grossbritannien will, dass die Europäische Union Erfolg hat und gedeiht», hält sie im Austrittsschreiben fest. Dieser Wunsch ist Ausdruck eurer Erfahrung aus den beiden Weltkriegen. Ihr habt verstanden, dass nur ein geeintes Europa ein starkes Europa sein kann. Ein zerfallender Kontinent mit rivalisierenden Nationalstaaten ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt.
Daraus spricht euer legendärer Pragmatismus. Uns von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verschonten Schweizern fehlt dieses Bewusstsein. Viele im rechten Spektrum sehnen das Ende der EU herbei, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Gleichzeitig ist euer frommer Wunsch auch paradox: Ihr wollt eine starke EU – «aber bitte ohne uns?»
Der EU alles Gute wünschen, sie aber gleichzeitig mit dem Austritt schwächen – es sind solche Widersprüche, die Brexit-Gegner wie Martin Wolf umtreiben. Sie zeigen eine andere Seite. Irgendwie habt ihr es nie geschafft, den Verlust des Empire zu verarbeiten. (Zu) viele kultivieren das Selbstverständnis einer Weltmacht, zu der man ehrfürchtig hochschaut.
Seit Jahrzehnten klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit habt Ihr weniger profitiert als die meisten Länder Westeuropas, darüber konnte das Swinging London der 60er Jahre nicht hinwegtäuschen. Auf den Verlust der Kolonien wart Ihr schlecht vorbereitet. Als ich in den 70ern England erstmals besuchte, war ich irritiert. Ausserhalb Londons wirkte vieles rückständig, ja miefig.
Auf den Strassen verkehrten seltsame dreirädrige Vehikel, die umkippten, wenn man zu schnell in eine Kurve fuhr. Jeremy Clarkson hat es in einer der denkwürdigsten Episoden von «Top Gear» vorgemacht. Die 70er waren eine schwere Zeit, Grossbritannien war durch Krisen und Streiks gelähmt. Premierministerin Margaret Thatcher sorgte für Remedur.
Sie verordnete dem Land eine Rosskur, die bis heute nachwirkt. Die einst blühende Industrie ist geschrumpft, sie macht noch zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Dafür wurde der Dienstleistungssektor forciert. Er konzentriert sich stark auf die boomende Metropole London. Die Wahlkreise im Zentrum der Hauptstadt stimmten zu drei Vierteln gegen den Brexit.
Die meisten Eurer Probleme sind hausgemacht, schreibt die deutsche «Zeit». Die starke Zuwanderung aus der EU, ein wichtiger Faktor für das Brexit-Ja, ist auch eine Folge des mangelhaften Bildungssystems. Die Überreste der Industrie, vorab die Automobilbranche, sind mangels einheimischer Zulieferer auf Importe aus Europa angewiesen. Die Fluglinie EasyJet kann ihr dichtes Netz in Europa nur betreiben, weil sie im einheitlichen Luftraum integriert ist.
Eure Regierung kennt das Problem. Sie will mehr als 20'000 Bestandteile des EU-Rechts in nationales Recht überführen, um «Wirtschaft, Beschäftigten und Konsumenten die nötige Planungssicherheit zu geben», wie Brexit-Minister David Davis erklärte. Man wolle den Fall in ein «schwarzes Loch» nach dem Austritt vermeiden.
Das entsprechende Gesetz wird «Grosse Aufhebung» genannt. Wir haben Erfahrung mit derartigen Euphemismen. Bei uns bezeichnet man dies als «autonomen Nachvollzug».
Davis bezeichnet die Massnahme als «temporär», schliesslich will sich Britannien an den Weltmärkten orientieren. Einfach wird das nicht werden. Bei einem ersten Besuch in Indien ist Theresa May schon einmal aufgelaufen. Die Inder warten vermutlich ab, bis ihr draussen seid, dann werden sie euch knallhart die Rechnung präsentieren: «Ihr Briten bekommt ein Freihandelsabkommen, dafür überlasst ihr uns den ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat, samt Vetorecht.»
Mit China dürfte es nicht einfacher werden. Wir haben ein viel bejubeltes Freihandelsabkommen abgeschlossen, das ziemlich asymmetrisch ist, mit Vorteilen für den grösseren Partner. Euch wird es kaum besser gehen. Die Chinesen haben einen weiten Zeithorizont und ein gutes Gedächtnis. Glaubt Ihr ernsthaft, sie hätten vergessen, wie Ihr sie im Opiumkrieg gedemütigt habt?
Ich wünsche Euch Glück auf dem schwierigen Weg. Und zweifle daran, dass Theresa May es mit dem «Hard Brexit» ernst meint. Es ist Verhandlungstaktik, um möglichst viel herauszuholen. Bereits an Tag 1 hat May in der BBC angedeutet, dass die Personenfreizügigkeit auch bei einem Austritt zumindest für einige Zeit fortbestehen könnte. Die Brexit-Fans werden nicht amused sein.
«Land of Hope and Glory», lautet der Titel eines anderen patriotischen Liedes. Heute bleibt euch nur die Hoffnung, denn von der Glorie ist wenig geblieben. Eure Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit. Sie heisst Little Britain im europäischen Niemandsland, Seite an Seite mit uns. Ausser ihr überlegt es euch anders und kommt auf den Brexit zurück.
In diesem Sinne: Yours sincerely