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Brexit: Offener Brief an ein künftiges Nicht-EU-Mitglied

A pedestrian passes a new piece of art by street artist Bambi in London. in London, Thursday, Feb. 16, 2017. The work, entitled Lie Lie Land, features a dancing British Prime Minister Theresa May and  ...
Beitrag der Londoner Strassenkünstlerin Bambi zum Brexit.Bild: Kirsty Wigglesworth/AP/KEYSTONE
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Hello, Little Britain: Offener Brief an ein künftiges Nicht-EU-Mitglied

Die Briten machen ernst mit dem Brexit. Man fragt sich: Wissen die, was sie tun? 
31.03.2017, 09:1831.03.2017, 19:59
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Dear citizens of the United Kingdom,

Jetzt ist es passiert. Eure Regierung hat den Brexit in Gang gesetzt und den Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union in Brüssel deponiert. Für die Brexit-Befürworter kann die zweijährige Verhandlungsfrist bis zum endgültigen Ende der EU-Mitgliedschaft nicht schnell genug ablaufen. «Freedom!», titelte Euer Schrottpresse-Erzeugnis «Daily Mail».

Rule, Britannia! Britannia rule the waves; Britons never will be slaves.

So heisst es im Refrain Eurer inoffiziellen Nationalhymne. Und so soll es nach dem Willen der «Brexiteers» wieder werden. Ein aus der europäischen «Sklaverei» befreites Britannien soll nicht gerade die Meere beherrschen, wie in der guten alten Empire-Zeit, aber wieder ein Global Player werden. Und damit in ein neues, goldenes Zeitalter der Prosperität eintreten.

epa05877098 Unidentified members of Britain's UK Independence Party (UKIP) hold a Union flag as they celebrate the official triggering of Article 50 of the Lisbon Treaty, dubbed 'Brexit&#039 ...
UKIP-Anhänger feiern vor der EU-Zentrale die Übergabe des Austrittsgesuchs.Bild: STEPHANIE LECOCQ/EPA/KEYSTONE

Nicht alle teilen diesen Enthusiasmus. Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times», sieht für sein Land keine erfreuliche Perspektive ausserhalb der EU: «Das Königreich wird ärmer, gespaltener und weniger einflussreich sein.» Man lebe nicht mehr im 19., sondern im 21. Jahrhundert. «Die Isolation wird nicht ‹splendid› sein – es wird Isolation sein», meint Wolf.

Kein einfaches Leben

Als Bürger eines Nicht-EU-Landes kann ich feststellen: Ja, es gibt ein Leben ausserhalb der Union. Es muss nicht einmal schlecht sein. Aber einfach ist es nicht. Die Schweiz hat in den letzten Jahren erfahren müssen, dass das Leben in der Isolation hart sein kann, besonders wenn man von den Mächtigen in den Schwitzkasten genommen wird.

Ihr spielt in einer etwas höheren Liga und verfügt vor allem in der Sicherheitspolitik über Trümpfe, die Eure Regierung offenbar ausspielen will. Aber im Unterschied zu Euch waren wir nie EU-Mitglied. Es ist einfacher, von aussen den Anschluss zu suchen, als sich aus einer derart engen Allianz herauszulösen. Ein hässlicher Scheidungskrieg ist nicht ausgeschlossen.

Wichtigster Handelspartner

Ein Aspekt spielt dabei eine zentrale Rolle. Die «Rest-EU» ist euer wichtigster Handelspartner – etwas, das wir gemeinsam haben. Und daran wird sich nach dem Brexit so schnell nichts ändern. Geographische und kulturelle Nähe sind auch in der globalisierten Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Eure Premierministerin Theresa May ist sich dieser Tatsache bewusst.

The letter from Britain's Prime Minister Theresa May to Donald Tusk, the President of the Europeran Council, triggering the United Kingdom's exit from the EU is seen in London, March 29, 201 ...
Das Austrittsschreiben an EU-Ratspräsident Donald Tusk.Bild: DYLAN MARTINEZ/REUTERS

«Grossbritannien will, dass die Europäische Union Erfolg hat und gedeiht», hält sie im Austrittsschreiben fest. Dieser Wunsch ist Ausdruck eurer Erfahrung aus den beiden Weltkriegen. Ihr habt verstanden, dass nur ein geeintes Europa ein starkes Europa sein kann. Ein zerfallender Kontinent mit rivalisierenden Nationalstaaten ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt.

Eine starke EU – aber ohne Euch?

Daraus spricht euer legendärer Pragmatismus. Uns von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verschonten Schweizern fehlt dieses Bewusstsein. Viele im rechten Spektrum sehnen das Ende der EU herbei, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Gleichzeitig ist euer frommer Wunsch auch paradox: Ihr wollt eine starke EU – «aber bitte ohne uns?»

Der EU alles Gute wünschen, sie aber gleichzeitig mit dem Austritt schwächen – es sind solche Widersprüche, die Brexit-Gegner wie Martin Wolf umtreiben. Sie zeigen eine andere Seite. Irgendwie habt ihr es nie geschafft, den Verlust des Empire zu verarbeiten. (Zu) viele kultivieren das Selbstverständnis einer Weltmacht, zu der man ehrfürchtig hochschaut.

Seit Jahrzehnten klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit habt Ihr weniger profitiert als die meisten Länder Westeuropas, darüber konnte das Swinging London der 60er Jahre nicht hinwegtäuschen. Auf den Verlust der Kolonien wart Ihr schlecht vorbereitet. Als ich in den 70ern England erstmals besuchte, war ich irritiert. Ausserhalb Londons wirkte vieles rückständig, ja miefig.

Thatchers Rosskur

Auf den Strassen verkehrten seltsame dreirädrige Vehikel, die umkippten, wenn man zu schnell in eine Kurve fuhr. Jeremy Clarkson hat es in einer der denkwürdigsten Episoden von «Top Gear» vorgemacht. Die 70er waren eine schwere Zeit, Grossbritannien war durch Krisen und Streiks gelähmt. Premierministerin Margaret Thatcher sorgte für Remedur.

Ein Symbol der britischen 70er.Video: YouTube/Top Gear

Sie verordnete dem Land eine Rosskur, die bis heute nachwirkt. Die einst blühende Industrie ist geschrumpft, sie macht noch zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Dafür wurde der Dienstleistungssektor forciert. Er konzentriert sich stark auf die boomende Metropole London. Die Wahlkreise im Zentrum der Hauptstadt stimmten zu drei Vierteln gegen den Brexit.

Hausgemachte Probleme

Die meisten Eurer Probleme sind hausgemacht, schreibt die deutsche «Zeit». Die starke Zuwanderung aus der EU, ein wichtiger Faktor für das Brexit-Ja, ist auch eine Folge des mangelhaften Bildungssystems. Die Überreste der Industrie, vorab die Automobilbranche, sind mangels einheimischer Zulieferer auf Importe aus Europa angewiesen. Die Fluglinie EasyJet kann ihr dichtes Netz in Europa nur betreiben, weil sie im einheitlichen Luftraum integriert ist.

Eure Regierung kennt das Problem. Sie will mehr als 20'000 Bestandteile des EU-Rechts in nationales Recht überführen, um «Wirtschaft, Beschäftigten und Konsumenten die nötige Planungssicherheit zu geben», wie Brexit-Minister David Davis erklärte. Man wolle den Fall in ein «schwarzes Loch» nach dem Austritt vermeiden.

Das entsprechende Gesetz wird «Grosse Aufhebung» genannt. Wir haben Erfahrung mit derartigen Euphemismen. Bei uns bezeichnet man dies als «autonomen Nachvollzug».

Niemand wartet auf Euch

Davis bezeichnet die Massnahme als «temporär», schliesslich will sich Britannien an den Weltmärkten orientieren. Einfach wird das nicht werden. Bei einem ersten Besuch in Indien ist Theresa May schon einmal aufgelaufen. Die Inder warten vermutlich ab, bis ihr draussen seid, dann werden sie euch knallhart die Rechnung präsentieren: «Ihr Briten bekommt ein Freihandelsabkommen, dafür überlasst ihr uns den ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat, samt Vetorecht.»

Indian prime Minister Narendra Modi, right, waves to media as his British counterpart Theresa May watches before their meeting in New Delhi, India, Monday, Nov. 7, 2016. Modi and May have begun wide-r ...
Theresa May ist bei Indiens Premier Narendra Modi vorerst aufgelaufen.Bild: Manish Swarup/AP/KEYSTONE

Mit China dürfte es nicht einfacher werden. Wir haben ein viel bejubeltes Freihandelsabkommen abgeschlossen, das ziemlich asymmetrisch ist, mit Vorteilen für den grösseren Partner. Euch wird es kaum besser gehen. Die Chinesen haben einen weiten Zeithorizont und ein gutes Gedächtnis. Glaubt Ihr ernsthaft, sie hätten vergessen, wie Ihr sie im Opiumkrieg gedemütigt habt?

Mays Taktik

Ich wünsche Euch Glück auf dem schwierigen Weg. Und zweifle daran, dass Theresa May es mit dem «Hard Brexit» ernst meint. Es ist Verhandlungstaktik, um möglichst viel herauszuholen. Bereits an Tag 1 hat May in der BBC angedeutet, dass die Personenfreizügigkeit auch bei einem Austritt zumindest für einige Zeit fortbestehen könnte. Die Brexit-Fans werden nicht amused sein.

«Land of Hope and Glory», lautet der Titel eines anderen patriotischen Liedes. Heute bleibt euch nur die Hoffnung, denn von der Glorie ist wenig geblieben. Eure Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit. Sie heisst Little Britain im europäischen Niemandsland, Seite an Seite mit uns. Ausser ihr überlegt es euch anders und kommt auf den Brexit zurück.

In diesem Sinne: Yours sincerely

Demonstration gegen den Brexit

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Demonstration gegen den Brexit
Demonstranten zeigen in London klar Flagge für die EU.
(Bild: REUTERS/Luke MacGregor)
quelle: x01981 / luke macgregor
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34 Kommentare
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NWO Schwanzus Longus
31.03.2017 12:05registriert November 2015
"Die Schweiz hat in den letzten Jahren erfahren müssen, dass das Leben in der Isolation hart sein kann", ja es ist wirklich hart in der Schweiz weil wir wie Nordkorea sind.....
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Ohniznachtisbett
31.03.2017 09:53registriert August 2016
Hach, diese Schwarzmalerei... Wie damals 1992 als uns von allen Seiten erklärt wurde, dass die Arbeitslosigkeit in astronomische Höhen stiege, stimmten wir nicht dem EWR zu. Wie damals als Monsieur Couchepin gesagt hat, die Personenfreizügigkeit brächte max. 10'000 mehr Nettozuwanderung pro Jahr. Wie damals als Herr Kohl von blühenden Landschaften in 5 Jahren sprach. Wie damals, als mein Lehrer meinte, aus mir werde wohl nie was... Eure Prognosen sind oft falsch, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.
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Markus Hofstetter
31.03.2017 12:48registriert Juni 2016
"Die Schweiz hat in den letzten Jahren erfahren müssen, dass das Leben in der Isolation hart sein kann"

Ja, ich fühle mich sehr isoliert. Ich vermisse es richtig, einmal eine andere Sprache als Deutsch zu hören. Die internationalen Unternehmen sind weg. Es ist schwierig, ins Ausland zu gelangen. Die Wirtschaft liegt brach. Und das nur wegen dieser altbackenen Bevölkerung, die die europäische Idee nicht verstanden hat. Darum haben wir ja auch ständig Krieg hier.
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