Nach der Silvesterfeier in Köln reichten 121 Frauen Anzeige ein. Eine Mehrheit war an jenem Abend sexuell belästigt worden, häufig wurde den Frauen gleichzeitig Handy und Portemonnaie geklaut.
Die Situation ist unbestritten ernst: Zwei Frauen haben angegeben, vergewaltigt worden zu sein. Opfer und Zeugen sollen gesehen haben, dass es sich bei den Tätern um junge Männer aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum handelt.
Gestern gab die Polizei bekannt, dass 16 identifiziert wurden. Trotzdem ist acht Tage nach den Übergriffen schwer nachvollziehbar, was geschah. Der Kölner Polizeichef Wolfgang Albers sprach von «Straftaten einer völlig neuen Dimension».
Was diese «völlig neue Dimension» ausmacht, darüber scheiden sich die Geister. Einerseits wird gemutmasst, dass die Angriffe eine neue Form von Bandenkriminalität darstellen. Auch in Hamburg und Stuttgart wurden Frauen belästigt.
Und die Zeugenaussagen decken sich mit jenen aus Köln: Die Opfer wurden umzingelt, an Brüsten, Hintern und im Schritt begrapscht – und dann bestohlen.
Die deutsche Kriminologin Rita Steffes-enn äusserte gegenüber watson die These, dass es sich beim Betatschen um ein Ablenkungsmanöver handle, um dem Opfer Portemonnaie und Handy zu rauben.
«Wenn in einer so kurzen Zeit, am selben Ort eine derartige Zahl von Delikten verübt wird, muss das Vorgehen abgesprochen worden sein», sagt sie.
Gleichzeitig rückte schnell eine zweite These in den Vordergrund: Die Täter mit «nordafrikanischem» Aussehen entstammten einer Kultur mit patriarchalischem Rollenverständnis: die Frau als Objekt, die Frau ohne Rechte.
Gegenüber der «Nordwestschweiz» forderten bereits Anfang Woche Frauenrechtlerinnen, Gesellschaft und Politik müssten sich endlich mit dem Frauenbild im Islam auseinandersetzen.
Die deutsche Soziologin Necal Kelek erklärte stellvertretend: «Die Täter fühlten sich kollektiv moralisch dazu legitimiert, die Opfer sexuell zu attackieren und auszurauben, weil sie das Prinzip der Gleichheit zwischen Mann und Frau nicht kennen und akzeptieren.»
Obwohl zunächst wenig über die Täter bekannt war, sprachen deutsche Politiker über die Ausweisung straffälliger Asylsuchender. Rechtspopulisten sahen sich in ihrem Rassismus bestätigt, verdrehten Zahlen und redeten von 1000 beteiligten Tätern, ja von einer Massenvergewaltigung.
Und es wird klar: Die pauschale Verurteilung junger Maghrebiner schürt den Fremdenhass.
Wie ungeschickt die Behörden mit der Thematik umgehen, zeigte sich gestern. Deutsche Zeitungen vermeldeten, dass entgegen den offiziellen Angaben die Herkunft von hundert kontrollierten Personen bekannt sei. «Nur bei einer kleinen Minderheit handelte es sich um Nordafrikaner, beim Grossteil der Kontrollierten um Syrer», soll ein Kölner Polizist ausgeplaudert haben.
Die Einsatzbeamten gaben an, noch mehr zu wissen: «Vorrangig» sei es den «meist arabischen Tätern» in der Silvesternacht um «sexuelles Amüsement» gegangen.
Die Angaben, welche die Polizisten gegenüber deutschen Medien gemacht haben, sind nicht bestätigt. Doch das Agieren der Behörden zeigt, dass zumindest die Verlockung zur Augenwischerei gross ist. Sie wollen erst Anfang nächste Woche wieder informieren. Für sie wäre es wohl einfacher, wenn die Täter keine frisch aufgenommenen Flüchtlinge wären.
Denn neben einzelnen mutmasslich Straffälligen haben im vergangenen Jahr 800 000 Personen Asyl in Deutschland beantragt. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie schnell der Goodwill ins Negative kippen kann. Bloss: Um dies zu verhindern, darf die kulturelle Herkunft der Täter nicht tabuisiert werden.
Hundert Frauen wurden belästigt, die Übergriffe sind real. Also ist es wichtig zu wissen, ob die Frauen in der Vorstellung der Täter eine untergeordnete Rolle einnehmen. Und ob diese feindliche Haltung notgedrungen auch zu Gewalt führt.
Wenn die Behörden nun die Flüchtlinge vor Feindlichkeiten schützen wollen, indem sie die Herkunft der Täter nicht preisgeben, spielt das letztlich in die Hände der Fremdenfeinde.
Besser wäre es, nüchtern zu analysieren, woher die Gewaltbereitschaft kommt und wie sie unterbunden werden kann. Die Frage klären, ob dafür alleine ein anachronistisches Rollenbild verantwortlich ist, oder ob fehlende Perspektiven zum Unmut beitragen.
Dieser Satz kommt nicht etwa von M. Le Pen, Geert Wilders oder Udo Voigt. Nein, diese Satz kommt vom deutschen Ex-Bundeskanzler und Sozialdemokraten Gerhard Schröder bei seinem Wahlkampf 1997.
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.