Nicaragua kommt auch nach dem Rückzug der umstrittenen Rentenpläne durch Staatschef Daniel Ortega nicht zur Ruhe. Es zeichnete sich eine Ausweitung der Proteste ab, nachdem am Montagabend erneut zehntausende Menschen gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte auf die Strasse gingen.
Während bislang Studenten die Strassendemonstrationen anführten, beteiligten sich am Montagabend in der Hauptstadt Managua auch zahlreiche Arbeiter und Rentner an den Protesten.
Zu der friedlichen Demonstration hatten Geschäftsleute aufgerufen. Sie sind aus Protest gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte zu Ortega auf Distanz gegangen. Bei den Protesten wurden bislang mindestens 27 Menschen getötet.
Die Demonstranten in der Hauptstadt Managua sangen die Nationalhymne und riefen Parolen gegen die Regierung. Ähnliche Demonstrationen fanden in den Städten León, Chinandega, Matagalpa, Estelí, Matiguás, Nueva Guinea, El Tule und Bluefields statt.
Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen liess die Polizei die Demonstranten aber gewähren und ging nicht mit Gewalt gegen die Menschen vor. Auch die regierungstreuen Schlägertrupps, die sich zuletzt immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit den Demonstranten geliefert hatten, griffen nicht ein.
Studenten kündigten an, dass die Proteste so lange andauern sollten, bis der 72-jährige Ortega und seine Stellvertreterin und Ehefrau Rosario Murillo zurücktreten. In einem Versuch, die Lage zu beruhigen, sagten Ortega und Murillo während einer Medienkonferenz zu, Festgenommene freizulassen, um die «Basis für einen Dialog» zu schaffen.
Die Regierung verweigere der Bevölkerung «das Recht auf Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und friedliches Demonstrieren», sagte stellvertretend für die tausenden Demonstranten der 26-jährige Politikstudent Clifford Ramírez gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Die Proteste hatten sich in der vergangenen Woche an geplanten Rentenmassnahmen entzündet, die Ortega am Sonntag jedoch zurückzog.
Eine Sprecherin des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte bezeichnete es am Dienstag in Genf als «besonders Besorgnis erregend», dass ein Teil der aus Nicaragua gemeldeten Todesfälle «illegalen Hinrichtungen» gleichkommen könnten. Notwendig sei eine Untersuchung zu den Berichten von «übermässiger Gewaltanwendung seitens der Polizei und anderer Sicherheitskräfte».
Beunruhigend seien ausserdem Informationen, wonach in den vergangenen Tagen dutzende Menschen verletzt oder inhaftiert wurden. Untersucht werden müssten ferner Gewalttaten, einschliesslich Plünderungen, während der Demonstrationen.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief am Montag «alle Seiten» zur Zurückhaltung auf. Die Regierung forderte er auf, «die Menschenrechte aller Bürger sicherzustellen, insbesondere das Recht auf friedliche Versammlung und Meinungsfreiheit». Die USA forderten die Familien ihrer Diplomaten in dem lateinamerikanischen Land wegen der unsicheren Lage auf, Nicaragua zu verlassen.
Die «widerliche» Gewalt von Polizei und «regierungstreuen Schlägern» gegen die nicaraguanische Bevölkerung habe die internationale Gemeinschaft schockiert, hiess es am Dienstag in einer Mitteilung des Weissen Hauses. Man verurteile die von der Regierung Nicaraguas propagierte Gewalt und Repression sowie die Schliessung von Medien.
Nicaragua galt im Vergleich zu Nachbarstaaten bislang als relativ sicheres Land in der Region. Die Demonstrationen gegen die Rentenpläne waren die bislang heftigsten Proteste in Ortegas zweiter Amtszeit.
Der Politiker der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) und ehemalige Guerillakämpfer regiert das Land seit elf Jahren. Bereits von 1985 bis 1990 war er gewählter Präsident des Landes gewesen. Und ab 1979 hatte er der Regierungsjunta angehört, die Nicaragua nach dem Sturz von Diktator Somozo führte. (sda/afp/dpa)