Seit Wochen erreichen Tausende Flüchtlinge über die Balkanroute Ungarn. Die ungarische Regierung reagierte mit dem Bau eines völkerrechtlich umstrittenen Zauns auf den anhaltenden Flüchtlingsstrom.
Angesichts der Migranten, die sich bereits auf ungarischem Boden aufhalten, hat sich Budapest am Montag zu einem weiteren drastischen Schritt entschlossen: Unter Protest der internationalen Gemeinschaft hat sie Flüchtlingen ohne Registrierung die Weiterreise nach Österreich und Deutschland gewährt – was de facto das Dublin-III-Abkommen der EU ausser Kraft setzt.
Am Dienstag dann liessen die Behörden den Bahnhof räumen, die Flüchtlinge schlugen ihre Lager vor dem Bahnhofsgebäude auf. Mittlerweile hat die Regierung den Bahnverkehr wieder freigegeben und die Halle geöffnet – allerdings nicht für Flüchtlinge.
Der deutsche Journalist Philipp Seitz berichtet für die Mittelbayerische Zeitung aus Budapest. Wir erreichten ihn per Telefon in einer Seitenstrasse in der Nähe des Keleti-Bahnhofs.
Wie ist die Stimmung beim Keleti-Bahnhof in Budapest?
Philipp Seitz: Die Stimmung unter den Flüchtlingen ist den Umständen entsprechend gut – noch. Sie campieren draussen vor dem Bahnhofsgebäude, immer wieder einmal formiert sich spontaner Protest unter den Menschen.
Ist es zu Ausschreitungen gekommen?
Meines Wissens nicht, die Flüchtlinge, die auf eine Passage nach Westen gehofft haben, sind zwar aufgebracht, aber Zusammenstösse zwischen Sicherheitskräften und Flüchtlingen hat es nach meinen Kenntnissen nicht gegeben, auch wenn mir Flüchtlinge zugetragen haben, dass die ungarische Polizei nicht davor zurückschreckte, Schlagstöcke einzusetzen bei der Räumung am Dienstagvormittag.
Wie viele Flüchtlinge halten sich denn momentan vor dem Bahnhof auf?
Es dürften etwa 1500 sein. Wobei das schwierig zu schätzen ist.
Situation in #Budapest #keleti #refugees pic.twitter.com/59aF2KEXNS
— Philipp Seitz (@SeitzPhilipp) 1. September 2015
Was war die Idee hinter der Räumung?
Die Behörden wollten wohl die Flüchtlinge aus der Bahnhofshalle entfernen, dafür griffen sie zum Mittel der Räumung. Mittlerweile ist der Bahnhof ja wieder zugänglich, allerdings nicht für Flüchtlinge. Reisende mit gültigen Tickets werden vom Polizeikordon durchgelassen, Flüchtlinge erhalten allerdings keinen Einlass – auch nicht mit einem gültigen Ticket, das immerhin 150 Euro kostet. Das berichteten mir mindestens die Flüchtlinge, mit denen ich gesprochen habe.
Wie viele Polizisten sind am Bahnhof postiert?
Auch da kann ich Ihnen nur eine Schätzung geben: Aktuell sind es wohl um die 200. Einige von ihnen sind in der Bahnhofshalle aufgestellt, die anderen befinden sich draussen vor dem Bahnhof.
Wie reagiert die Bevölkerung auf die Flüchtlinge?
Grundsätzlich regiert eine gewisse Gleichgültigkeit unter den Budapester. Es scheint, als hätten sich die Bewohner längst an das Bild der Flüchtlinge und Zeltstädte gewöhnt. Nebenan ist ein Einkaufszentrum, die Leute gehen ihren gewohnten Beschäftigungen nach.
Keine Hilfsbereitschaft gegenüber den Gestrandeten?
Doch, schon auch. Es gibt einige Freiwillige, die Wasser und Lebensmittel verteilen.
Woher stammen die Flüchtlinge?
Dazu kann ich ihnen keine genauen Informationen geben. Die meisten von ihnen kamen wohl von Griechenland über die Balkanroute ins Land, diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, geben Syrien als Heimatland an.
Und wohin wollen sie?
Ganz klar, Deutschland. Immer wieder flammen Sprechchöre mit «Germany, Germany» auf. Sie sind sogar in meinem Hotelzimmer gegenüber dem Bahnhof zu hören.
Wieso Deutschland?
Sie sagen, dass Deutschland das beste System hat, die beste Regierung. Sie rühmen die deutsche Willkommenskultur.
Wo schlafen die Flüchtlinge?
In Zelten in der U-Bahn-Station oder unter freiem Himmel. Hier in Budapest ist es momentan ziemlich schwül, in der Nacht sinken die Temperaturen nicht unter 25 Grad, von daher geht das noch. Aber: Es gibt auch Kinder, die auf dem nackten Boden schlafen. Das ist hart mitanzusehen.
Sind es, wie man immer wieder hört, vor allem junge Männer, die sich in Budapest aufhalten?
Nein, das hat mich auch überrascht. Es sind viele Familien mit kleinen Kindern darunter, auch wenn die Zahl der Männer natürlich überwiegt.
Weichen die Migranten jetzt auf alternative Routen aus?
Das ist wirklich schwierig zu sagen. In der Stadt selber habe ich bislang wenige Flüchtlinge gesehen. Ich denke, viele warten am Bahnhof noch ab, wie sich die Situation in den nächsten Tagen entwickelt, und entscheiden dann.
(wst)