Afrikanische Migranten, die über das Mittelmeer nach Italien kommen und weiter nach Nordeuropa wollen, werden an der italienisch-französischen Grenze blockiert. Seit 2015 kontrolliert Frankreich seine Grenzen mit Italien. Seitdem verweigern französische Polizisten, afrikanischen Migranten ohne Visum an der italienisch-französischen Grenze kategorisch die Einreise. Auch dann, wenn sie erklären, einen Asylantrag stellen zu wollen. Wie ist das möglich?
Frankreichs damaliger Präsident François Hollande erklärte nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris den Ausnahmezustand. Dies erlaubte eine Einschränkung von Grund- und Bürgerrechten. Es war auch die rechtliche Grundlage für die Grenzkontrollen und die Einreisebeschränkungen.
Der Ausnahmezustand wurde zum 31. Oktober 2017 zwar aufgehoben. Vor der Aufhebung wurden jedoch zahlreiche Gesetze verschärft, sodass auch die Grenze zu Italien für afrikanische Migranten weiter geschlossen bleiben kann.
Die Grenzschliessung an sich ist nicht rechtswidrig. Für EU-Mitgliedsstaaten gilt die sogenannte Dublin-III-Verordnung. Danach ist stets der Mitgliedsstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in dem der Asylbewerber zuerst EU-Boden betreten hat.
Für die Migranten an der italienisch-französischen Grenze heisst dies, dass zumeist Italien zuständig ist. Diese Verordnung liesse jedoch vor allem bei Minderjährigen auch Ausnahmen zu. Doch der französische Grenzschutz weist unbegleitete Minderjährige genauso ab wie Familien und Frauen.
Dies dokumentierten lokale Aktivisten um den Geflügelzüchter Cédric Herrou im Sommer 2017, in dem sie mit versteckter Kamera die Geschehnisse an einem Grenzübergang filmten. Nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verletzt Frankreich damit die Uno-Kinderrechtskonvention.
Die Grenzschliessung sorgte auch dafür, dass Hunderte von Migranten, die versuchen, die Grenze zu überqueren, in der italienischen Grenzstadt Ventimiglia gestrandet sind. Wenige davon kommen in einem Lager des italienischen Roten Kreuzes unter, fünf Kilometer ausserhalb von Ventimiglia. Zu dem Lager haben Journalisten und NGO keinen Zugang. Über die Lebensbedingungen dort ist somit wenig bekannt.
Noch bis zum Sommer 2017 gab es in Ventimiglia eine Kirche, in der für Frauen, Minderjährige und Familien Schlafplätze geschaffen wurde. Die Kirche ist für Migranten jetzt wieder geschlossen. Die Mehrheit der nicht-europäischen Migranten in der Stadt sind obdachlos. Sie schlafen im Kiesufer des Flusses oder in der Bahnhofshalle.
Unterhält man sich mit jungen Migranten in der Stadt, erzählen viele, dass sie es schon einige Male zu Fuss über die grüne Grenze und von dort sogar bis in die grösseren Städte, nach Nizza oder nach Marseille, geschafft haben. Von dort brachte die französische Polizei sie jedoch immer wieder zurück nach Ventimiglia. Nicht wenige waren schon fünfmal oder öfters in Frankreich und wurden von dort jedes Mal umgehend wieder zurückgeschickt.
Eine Aktivistin aus Ventimglia erklärt: «Unter den Migranten geht das Gerücht um, dass Ventimiglia zu gefährlich geworden ist. Nicht nur weil die Grenze dort sehr stark überwacht wird und sich viele beim Versuch sie zu überqueren verletzen, sondern auch, weil die italienische Polizei mehr und mehr Menschen aus Ventimiglia in Camps in Süditalien zurückschiebt.»
Nun versuchen immer mehr Migranten nördlichere Routen zu finden, um nach Frankreich zu kommen. Neben Ventimiglia am Mittelmeer entsteht ein zweiter zentraler Transitort für afrikanische Migranten in den Alpen. Es handelt sich um die 3000-Einwohner-Gemeinde Bardonecchia. Mit dem Zug aus Turin ist man in rund 90 Minuten dort. In Bardonecchia gibt es eine aktive Umweltschützerszene.
In der Gemeinde kämpfen seit Jahren Menschen gegen einen Ausbau der Schieneninfrastruktur in den Alpen und insbesondere gegen die geplante Schnellverbindung zwischen Turin und Lyon. Es ist zum Teil auch diese Umweltschützerszene, die nun Unterstützung für mittellos in Bardonecchia ankommende Migranten organisiert.
Am Bahnhof unterhält die Bergrettung beheizte Räume mit Feldbetten, in denen Migranten übernachten können. Hier gibt es noch Infrastruktur, die Hilfe erlaubt. In Ventimiglia dagegen bauten die Behörden solche Stätten nach und nach ab.
Aber auch in den Alpen erhöhte Frankreich die Grenzkontrollen. Migranten versuchen daher, den Gebirgspass «Col de l ́Échelle» (italienisch «Colle della Scala») in der Nacht zu überqueren.
Cissé Alassanne und Ibrahim Diallo machten sich im Januar 2018 auf diesen Weg. «Wir haben die Wüste durchquert, wir haben das Meer überquert. Ich verstehe nicht, warum wir vor einem Berg halt machen sollten», sagten sie.
Genau in dieser Naivität besteht die Gefahr. Jungen Afrikaner, die Kälte und Schnee nicht gewohnt sind, dürften die Unberechenbarkeiten eines Gebirgspasses unterschätzen. Bei Temperaturen unter Null Grad, Lawinengefahr und mangelhafter Kleidung ist diese Passage für Unvorbereitete lebensgefährlich. (sda)