Die Flüchtlinge schliefen auf dem nackten Boden am Budapester Keleti-Bahnhof, als die Flüchtlingskrise in Europa Anfang September ihren Höhepunkt erreichte. Die Welt schaute nach Ungarn, und was sie dort sah, war mit Sicherheit kein Beispiel einer barmherzigen Flüchtlingspolitik. Dass die ungarische Staatsbahn von den Flüchtlingen, die schliesslich die Züge nach Wien und München besteigen durften, dann noch überhöhte Preise verlangte, passte ins unschöne Bild.
Das Video mit der Kamerafrau, die Flüchtlingskinder tritt, konnte da nicht mehr wirklich überraschen – auch wenn es sich dabei natürlich um einen klaren Einzelfall handelte. Angesichts dieser Bilder fragte sich mancher Beobachter: Was ist los mit Ungarn?
Das Land an Donau und Theiss wird allerdings nicht erst seit der Flüchtlingskrise – in der übrigens Brüssel, das sollte auch gesagt sein, ebenfalls kein gutes Bild abgibt – misstrauisch beäugt. Schon seit 2010 hat sich Ungarn in der EU zusehends isoliert. Damals holte die Fidesz-Partei in der Parlamentswahl zusammen mit der christdemokratischen KDNP die Zweidrittelmehrheit und Viktor Orbán eroberte das Amt des Ministerpräsidenten.
Orbán rief eine «nationale Revolution» aus und machte sich an den autoritären Umbau des Staates. Bürgerrechte und Pressefreiheit wurden eingeschränkt, die demokratische Gewaltenteilung ausgehebelt. Die 2012 in Kraft getretene neue Verfassung schränkt die Unabhängigkeit der Justiz ein und definiert die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation ethnisch. Dies bekommen Minderheiten wie Roma oder Juden zu spüren, die dadurch ausgegrenzt werden.
Das politische Klima in Ungarn wird aber nicht nur von der Fidesz geprägt. Obwohl die Regierungspartei schon weit rechts steht, gibt es rechts von ihr noch Raum für eine starke rechtsradikale Opposition: Die «Bewegung für ein besseres Ungarn», Jobbik, erreichte bei den Parlamentswahlen 2014 über 20 Prozent.
Jobbik hetzt offen gegen Juden, Roma und Homosexuelle. Die von der Partei unterstützte EU-Parlamentarierin Krisztina Morvai zum Beispiel empfahl ihren jüdischen Kritikern, «mit ihren kleinen, beschnittenen Schwänzen zu spielen», statt sich mit ihr zu befassen. Aussenpolitisch dient Brüssel als Feindbild; auf gemeinsamen Demonstrationen von Jobbik, Fidesz und anderen rechtsgerichteten Gruppierungen wurde die EU als «verjudete Gemeinschaft» und «zionistisch fremdbestimmt» attackiert. Und es bleibt nicht bei der Rhetorik: Vor allem die Roma im Land bekommen das Resultat der Hetze in Form von gewalttätigen Angriffen zu spüren, die auch schon tödlich endeten.
Aus Jobbik ging die «Magyar Gárda» hervor, die «Ungarische Garde», die 2009 verboten wurde und sich danach als «Neue Ungarische Garde» erneut gründete. Diese uniformierte Truppe, die sich als Verteidiger der «physisch, seelisch und geistig wehrlosen ungarischen Nation» sieht, veranstaltet Paraden auf öffentlichen Plätzen und marschiert durch Roma-Viertel.
Der Rechtsruck in Ungarn folgte auf eine lange Phase der wirtschaftlichen Erschütterungen und Enttäuschungen: Nach dem Ende des Kommunismus brach die ungarische Wirtschaft 1991 massiv ein und Hunderttausende wurden arbeitslos. Nach 2000 verliessen im Zuge der Globalisierung zahlreiche ausländische Firmen das Land. Und der EU-Beitritt 2004, an den viele Menschen hohe Erwartungen geknüpft hatten, überforderte die ungarische Agrarwirtschaft.
Mit diesen Problemen steht Ungarn in Osteuropa nicht allein da. Die Finanzkrise traf die fragilen Ökonomien in Ost- und Südosteuropa hart, der Lebensstandard ist dort nach wie vor niedriger als im Westen. Auch andere Länder in der Region tendieren politisch nach rechts, und nicht nur Budapest verfolgt eine restriktive Flüchtlingspolitik.
Doch in Ungarn bedienen sich die Rechtsextremen besonders unverhohlen im Fundus der faschistischen Vergangenheit: Die «Neue Ungarische Garde» erinnert in ihrem Erscheinungsbild stark an die Pfeilkreuzler, die berüchtigte ungarische Nazipartei, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs im Oktober 1944 an die Macht gelangte. Die Pfeilkreuzler erschossen zehntausende Juden am Ufer der Donau in Budapest und unterstützten die Deutschen bei der Deportation der letzten ungarischen Juden nach Auschwitz.
Das Symbol der Pfeilkreuzler-Bewegung, das stark an das Hakenkreuz erinnert, stand für die Rückgewinnung der nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen ungarischen Gebiete in allen vier Himmelsrichtungen. Im Friedensvertrag von Trianon hatte Ungarn 71 Prozent seines Gebiets und über die Hälfte seiner Bevölkerung verloren.
Grosse Teile der Ungarn, die sich – neben den Deutschösterreichern – als Herrenvolk der Doppelmonarchie gesehen hatten, lebten nun als Minderheiten in den umliegenden neugegründeten Nationalstaaten. Aus diesem Grund schlug sich Ungarn im Zweiten Weltkrieg auf die Seite des «Dritten Reiches» – und fand sich damit 1945 erneut in der Position des Verlierers.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand das Land hinter dem Eisernen Vorhang. Der Aufstand von 1956 wurde von den Sowjets brutal niedergeschlagen. All dies nährte den Revanchismus und verstärkte die Neigung, sich als Opfer zu sehen.
Revanchismus und Nationalismus waren jedoch unter der sozialistischen Diktatur offiziell verpönt. Umso stärker brachen sie nach der Wende 1989 wieder hervor und griffen sofort zurück auf die Feindbilder der 30er Jahre. Heute steht freilich nicht mehr der nach wie vor virulente Antisemitismus im Vordergrund, sondern der Hass auf die Roma – und neuerdings die Flüchtlinge.
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