Hilfe vor Ort
watson und das Schweizerische Rote Kreuz sammeln eine Woche lang Spenden für syrische Flüchtlinge im Libanon. Mach mit!
Plötzlich blitzt etwas Goldenes auf. Das lag vorher nicht auf dem Tisch. Sameh* zieht seine Hand weg. Es ist eine Pistole. Goldig, fett, geladen liegt sie da, eine Beretta, Kaliber 9x19. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Gedanken überschlagen sich: Ich habe Samehs Ausweis gesehen; er arbeitet für die palästinensische Botschaft, er hat mich gerade auf Facebook hinzugefügt, meine Kollegen haben seine Nummer. Easy.
«What's with the weapon?», frage ich. «I'll kidnap you», sagt er. «Nicht lustig», finde ich. «It's for protection», sagt er, «denkst du ich gehe um diese Uhrzeit ohne Waffe ins Camp?» «Alles klar.» Sameh steckt die Waffe seitlich in die Hose. Wir gehen.
Die Gassen sind eng und labyrinthartig, überdacht durch ein dichtes Kabelgewirr. Seitlich türmen sich klotzige Häuser, Etage um Etage in die Höhe gebaut – seit 1948. Das Foto eines Jungen taucht an einer Wand auf. «Der kam durch einen Stromschlag um», sagt Sameh, «wenn es hier regnet, explodieren die Kabel.»
Das ist Sabra, das Elendsviertel von Beirut. Eines der zwei grössten Flüchtlingscamps mitten in der Stadt. Das andere heisst Schatila. Seit Ausbruch des Syrien-Krieges sehen sich diese Palästinenser-Camps mit massenhaft neu ankommenden Flüchtlingen konfrontiert. Alleine in Sabra hat sich die Zahl der Einwohner von 20'000 auf 40'000 verdoppelt. In Schatila leben 30'000 Menschen auf einer Fläche von drei Fussballfeldern.
Die Camp-Eingänge kontrolliert die libanesische Polizei, hinein wagt sie sich nicht. Hier ist autonomes Gebiet, hier regiert die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die Fatah, die Hamas, einige NGOs sind auch präsent. Keine drei Kilometer weiter südöstlich beginnt das Hizbollah-Quartier. Erst vor drei Wochen töteten hier zwei Selbstmordattentäter mindestens 43 Menschen, 239 weitere wurden verletzt. Der sogenannte Islamische Staat bekannte sich zu den Anschlägen.
Sameh hat dabei zwei Schulfreunde verloren. «Gott segne sie und habe Erbarmen mit den Märtyrern des Verrats und des Terrorismus in der Vorstadt», postete er auf Facebook.
Der 33-Jährige gehört zu einer alten PLO-Familie, zur Fatah, der stärksten Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Sein Ziel heisst Intifada, sein Traum heisst Palästina. Obwohl er da nie gelebt hat. Sein Grossvater flüchtete 1948 in den Libanon, als Israel gegründet wurde und Palästina blutig zerfiel. Sameh ist im Slum geboren, am Eingang zum bröckligen Haus seiner Familie hing schon immer ein Bildnis von Jassir Arafat. Sameh hat sich für den diplomatischen Weg entschieden. Im Aufrag der libanesischen Botschaft organisiert er jetzt Jugendprogramme für die Ghetto-Kinder. Daneben designt er T-Shirts.
Sabra und Schatila sind von der Welt vergessene Orte. Im regierungslosen Libanon hat dieses Camp eigene Strukturen. Ein zentrales Bürgerbüro sammelt und bezahlt das Geld für Wasser und Strom, Steuern zahlt hier niemand.
Wer hier geboren ist, bleibt Flüchtling. Die Libanesen schenken den Palästinensern nichts. Sie haben kein Anrecht auf die libanesische Staatsbürgerschaft, die Ausübung von über 70 Berufe ist ihnen verboten, sie dürfen nicht reisen. Nur wenige schaffen es, aus dem Camp wegzuziehen.
«Sie haben Angst, dass die Sunniten zur Mehrheit werden», meint Sameh, «wenn sie uns alle zu Libanesen machen würden.» Die PLO und das christlich-westlich dominierte Libanon haben eine gemeinsame Geschichte. Die PLO startete in den Siebzigerjahren immer wieder terroristische Angriffe vom Libanon aus gegen Israel. Eine israelische Intervention, die sich insbesondere gegen die PLO richtete, führte im Libanonkrieg 1982 zu einer entscheidenden Schwächung der militanten Palästinenser. Im August unterlagen sie militärisch. Einen Monat später starb der neu gewählte libanesische Präsident Baschir Gemayel durch ein Bombenattentat. Die Palästinenser standen im Verdacht, für den Mord verantwortlich zu sein. Die Antwort der Libanesen war schrecklich: Unter den Augen der Israelis töteten christlich-libanesische Milizen in Sabra und Schatila innerhalb von drei Tagen bis zu 3000 Menschen.
Das Massaker ist mehr als 30 Jahre her, aber immer noch präsent. Das Eindringen der Libanesen wollen die Palästinenser seither tunlichst vermeiden. Als vor ein paar Wochen die Probleme im Drogenhandel zu gross wurden, drohte die libanesische Polizei einzugreifen. Die Palästinenser reagierten, bevor es zu spät war, verhafteten ein paar Dealer und übergaben sie den Libanesen.
Drogen sind nicht das einzige Problem hier. Die Wasser- und Abwassersysteme sind überlastet, überall tropft es, überall türmt sich der Abfall. Die Syrer eröffnen ihre eigenen Läden, konkurrieren mit den Palästinensern um Tagesjobs und arbeiten zu viel tieferen Löhnen.
Von einem weiteren Problem erzählt Samer Sirri, selber Flüchtling aus Syrien und Arzt in der von den Ärzten ohne Grenze betriebenen Klinik in Schatila: «Wir haben ein grosse Probleme mit der Krätze. Die hygienischen Zustände sind katastrophal.» Sirri behandelt täglich bis zu 70 Patienten.
Dennoch funktioniert das Zusammenleben auf engstem Raum. «Wir teilen unser Schicksal als Vertriebene», erklärt Sameh. Wer kein Krimineller und nicht beim «IS» sei, finde hier eine Zuflucht.
Bei Tag vibrieren die Gassen voller Händler, Kinder, Mofas und Handwerker. An einem Wasserturm hängt hoch oben ein überdimensionaler Schlüssel, eigentlich der Schlüssel zu Palästina. Für viele Flüchtlinge sind inzwischen andere Schlüssel viel wichtiger geworden, sie bewahren sie auf wie Schätze: Es sind die Schlüssel ihrer zerbombten Häuser.
Sameh geht durchs Camp und schüttelt jede Hand, die ihm gereicht wird. Jeder kennt ihn, die Jugendlichen verehren ihn. Er schickt einen von ihnen los, um bunte Regenschirme zu kaufen. Gleich findet eine Demonstration statt, «Solidarity for the Palestinian Intifada». Die Camp-Kinder werden Musik machen.
Sameh organisiert, drückt beinahe ununterbrochen sein Handy ans Ohr. Auf seiner rechten Hand ist ein «A» tätowiert, «Albertina». Die Arabisch-Studentin aus Italien hat kürzlich beschlossen, in Ägypten zu Ende zu studieren und ist abgereist. Sameh ist zurückgeblieben. «Du bist 33, du solltest doch langsam eine Familie gründen», sage ich. «Wozu?», fragt Sameh müde, «damit sie in diesem Camp leben?»
* Name geändert
Und trotzdem kann ich mich auch nicht, aufgrund der momentan herrschenden politischen Lage, mit Israel solidarisieren. Diese rechtsaussen Politik und der Siedlungsbau ist grauenhaft!
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