«Es isch dunkel und chalt und langwilig», schreibt mir mein Freund aus Changchun, einer gesichtslosen Millionenstadt im Nordosten Chinas. «... aber scho guet für paar Täg», schiebt er nach. Es wäre nicht nötig gewesen. Denn als ich das hörte, wusste ich: Da will ich hin.
Ferien im November waren geplant. Mit einem wunderbaren Hotel, üppigem Frühstücksbuffet und jeden Tag stundenlang am schönsten Strand der Welt bruzzeln, kann man mich nicht locken. Eine Reise in die unbekannten Weiten Chinas, fernab von Tourismushochburgen, dafür mit der Aussicht nach Nordkorea hinüberzublicken – grossartig. Tatsächlich werde ich etwas erleben, das ich mir so nicht vorstellen konnte. Und noch immer nicht ganz fassen kann.
Aber von Anfang an.
Der Reiseführer empfiehlt auf seinen wenigen Seiten, welche das gigantische Gebiet abdecken, als eines der wenigen Highlights: «23 Kilometer nordöstlich von Dandong kann man eine spannende, 30-minütige Bootsfahrt auf dem Yalu Jiang machen. Auf einem bestimmten Flussabschnitt werden ufernahe Gefilde angesteuert, die im Nordkorea-Gebiet liegen. Dort warten schon die nordkoreanischen Bootsführer, um Zigaretten, Devisen und Alkohol zu kaufen.»
Ich bin fasziniert von Grenzen. Egal ob reale oder solche, die nur in unseren Köpfen sind. Gemeinsam haben sie meines Erachtens alle oft eines: Sie sind völlig willkürlich und meist sinnlos. So wie in diesem Fall zwischen Nordkorea und China. Warum wird hier plötzlich ein kleiner Seitenarm zur Landesgrenze und die grosse Insel gehört so zu Kim Jong-uns Reich?
Wie auch immer. Bald tuckere ich mit rund 15 Chinesen auf dem Yalu. Verteilt werden Ferngläser, alle haben Kameras zur Hand. Die ganze Schar bewegt sich auf dem Boot von rechts nach links, je nachdem, wo es etwas zu sehen gibt. «Etwas» bezieht sich dabei nicht auf Vögel, Landtiere oder spannende Uferflora. Sondern Menschen. Also Nordkoreaner.
Links bestellen drei Bauern ein Feld, rechts versuchen einige Männer eine Kuh auf ein kleines Boot zu bewegen. Zwei Männer in Uniform überwachen den Vorgang. Bei uns auf dem Schiff klicken die Kameras und durch die Ferngläser werden die Nordkoreaner ausspioniert. Glücklicherweise befindet sich ein Südkoreaner auf dem Boot, der chinesisch versteht und für mich übersetzt.
Wirklich grotesk wird die Ausfahrt auf dem Rückweg. Es können Zigaretten und Esswaren gekauft oder Devisen gewechselt werden. Davon wird rege Gebrauch gemacht. Das Boot fährt in Ufernähe und die Passagiere werfen den armen Seelen am Rand die Dinge rüber. Eilig rennen diese, um die wertvolle Kost zu ergattern. Ich kann gar nicht glauben, was ich sehe. «‹Affenfütterung› nannte es der Bootsfahrer», sagt mir der Südkoreaner.
Auf dem Rückweg erklärt er mir, wie es dazu kam und die Chinesen ein Geschäft daraus entwickelten. Als Südkoreaner kann man über Mittelsmänner Verwandte in Nordkorea ausmachen. Werden diese gefunden, macht man an einem Flussabschnitt ab und kann seine Familie vom Boot aus mit Essen, Kleidern und so weiter unterstützen.
«Im Sommer, wenn es mehr Touristen hat, ist das Ufer voll mit Nordkoreanern, die auf Unterstützung hoffen. Einige kommen dann auch in kleinen Booten zum Touristenschiff und holen Waren ab. Es ist tragisch.» Ob er an eine Wiedervereinigung glaubt? «Die ist wieder weit weg. In Südkorea beschäftigen wir uns momentan mehr mit unserer eigenen Präsidentin.»
Die Bootsfahrt ist das eindrücklichste, aber nicht das einzige Absurdum an der brisanten Grenze. Im nahen Dandong (China) liegt auf der gegenüberliegenden Flussseite Sinuiju (Nordkorea). Am Tag wirkt die nordkoreanische Stadt «normal».
Rüber geht es seit Ende 2015 über die fast einzige grosse Brücke über den Yalu. Fussgänger sind nicht erlaubt, bei einem dieser wenigen Tore in den isolierten Staat. Rund 60 Prozent des Handels mit Nordkorea soll hier abgewickelt werden. Neben dieser «Friendship Bridge», welche für den Verkehr geöffnet ist, steht noch die alte, kaputte Brücke. Sie wurde allerdings von Nordkorea nach der Zerstörung der Amerikaner Mitte des 20. Jahrhunderts auf ihrer Seite nicht wieder aufgebaut. Nur noch die massiven Pfeiler ragen aus dem Wasser.
Auf chinesischer Seite stehen Ferngläser bereit, um rüber zu schauen. Man entdeckt dann schnell ein Riesenrad und eine Wasserrutsche. Doch beide Vergnügungsanlagen seien längst nicht mehr in Gebrauch.
Offensichtlich wird der Unterschied in der Nacht. Wenn auf der chinesischen Seite alles blinkt und leuchtet und lärmt, scheint die «Friendship Bridge» zur «Bridge to nowhere» zu werden. Denn in Nordkorea leuchten nur ganz wenige Lichter.
Auch wenn die Erlebnisse teilweise schockierend waren: Ich kehre mit sehr vielen positiven Erinnerungen an China zurück in die Schweiz. Und bin einmal mehr froh, habe ich mich gegen das wunderbare Hotel und das üppige Frühstücksbuffet entschieden.