International
Reportage

Besuch in Nordkorea: Nur wer Marathon läuft, ist frei

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Die Freiheit ist 42,195 Kilometer lang – ein Besuch in Kims Reich

Nach fünf Tagen in Nordkorea und einem Marathon beginnt unser Autor zu begreifen, was es heisst, frei zu sein. Dass er wieder heil zuhause ist, hat er auch ein wenig Otto Warmbier zu verdanken.
20.06.2017, 20:1722.06.2017, 10:19
Dennis Schenk (Text und Bilder)
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Ein Artikel von
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Das letzte Briefing vor dem Abflug findet im fünften Stock eines verlassenen Pekinger Hotels statt. Das Publikum ist durchmischt: Pärchen, Studenten, Berufstätige, Rentner. Die meisten Anwesenden sind Europäer, aber auch einige Amerikaner und Asiaten haben den Weg hierher gefunden. Dass sie Marathon laufen, steht Einigen ins Gesicht geschrieben – oder aufs T-Shirt –, uns anderen überhaupt nicht.

Auf den «28. Mangyongdae Prize International Marathon» in Pjöngjang bin ich zufällig gestossen. Der Lauf ist offen für internationale Gäste, also meldeten ein guter Freund und ich uns sofort an. Viele andere Wege, um in die abgeschottete Demokratische Volksrepublik Korea zu kommen, wie Nordkorea offiziell heisst, gibt es derzeit nicht.

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Im fünften Stock werden wir von jungen, enthusiastischen Westlern in gelben T-Shirts empfangen. Sie sind Mitarbeiter von Koryo Tours, dem Reiseveranstalter, der unsere Reise in die nordkoreanische Hauptstadt organisiert. Sie gehen noch einmal die wichtigsten Benimmregeln durch. Die meisten haben mit den früheren und dem jetzigen Führer zu tun. Diese sind unantastbar, allmächtig, allwissend, allgütig, kurzum: gottgleich. Verehrt wird der ganze Kim-Clan, angefangen beim Grossvater, Kim Il-sun, der Ewige Präsident, über dessen Sohn, Kim Jong-il, der Ewige Generalsekretär, bis zu dessen Sohn, Kim Jong-un, der aktuell Oberste Führer, ewiger Titel noch ausstehend.

Wenn Fotos von einem der Führer gemacht werden, dann muss er immer ganz aufs Bild – abschneiden ist nicht erlaubt. Bilder eines Führers dürfen nicht gefaltet, zerrissen oder weggeschmissen werden. Sie dürfen weder auf den Boden gelegt noch sonst respektlos behandelt werden.

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Da in jeder Zeitung in der Volksrepublik täglich mindestens ein Führer abgebildet ist, gestaltet sich die Entsorgung von Altpapier schwierig. Die Lösung: Man deponiert alte Zeitungen an dafür vorgesehenen Orten. Dafür Zuständige entfernen sie dann unauffällig. Was mit den Abbildern der Führer passiert, erfahren die Nordkoreaner nicht.

Am nächsten Morgen sitzen wir hinten in einer röhrenden Tupolev. Es ist heiss und riecht muffig. Das sowjetische Interieur – rotes Leder auf grauem Filz – hat etwas charmant Nostalgisches. Auf der Suche nach einer Toilette gehe ich nach vorne, wo die heimkehrenden Nordkoreaner sitzen.

Hier ist es angenehm klimatisiert. Am Ende des Ganges sitzt ein Mann in schwarzem Anzug mit schwarzer Sonnenbrille. Die Aufmachung des Sicherheitsbegleiters erinnert an schlechte Agentenfilme. Den an die Wand geschraubten Monitor, der das Flugzeuginnere und alle Passagiere zeigt, beachtet er nicht, viel zu tief ist er in sein Smartphone versunken. Candy Crush.

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Die Ankunftshalle des Sunan-Flughafens in Pjöngjang ist voller Menschen, alle in Uniform: Armee, Luftwaffe, Sicherheit – ich kann nicht alle zuordnen. Die Uniformierten ignorieren uns, sind in Gespräche vertieft oder warten schweigend. Worauf? Ein Blick auf die Ankunftstafel verrät, dass heute zwei Landungen vorgesehen sind, die zweite erst am Abend.

Mein Koffer ist einer der ersten, die auf dem Förderband der Gepäckausgabe auftauchen. Im Flugzeug haben wir sehr genau notieren müssen, was wir alles ins Land bringen. Wichtig ist, Kameras und Mobiltelefone zu deklarieren. GPS-Geräte sind verboten, Bücher heikel. Beim Zollbeamten gebe ich meinen alten iPod und mein iPhone ab und lasse meinen Koffer und dann mich scannen. Vor der Reise hatte ich gehört, dass Smartphones manchmal beschlagnahmt und erst bei der Ausreise zurückgegeben werden.

Ich habe Glück: Der Zöllner schaut sich die Geräte nur kurz an, notiert etwas auf einer Liste und gibt sie mir zurück. Ich werde gefragt, wie viele Bücher ich dabei hätte. Eins, sage ich. Er fragt mich nochmals. Ich wiederhole meine Antwort. Also bittet er mich, den Koffer zu öffnen. Er zeigt auf eine bestimmte Stelle. Dort ist mein Notizbuch. Schnell sage ich, dass ich daran nicht gedacht hätte – und sehe mich bereits mit einem Fuss im Arbeitslager. Ich verstehe nicht, was er sagt, ich interpretiere sein Lachen als: «Erwischt!». Dann deutet er hinter sich zur Ankunftshalle. Ich packe mein Zeug zusammen und gehe weiter.

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Ich bin der erste aus unserer Gruppe, der auf der anderen Seite ankommt. Ein junger Mann, vielleicht 20 Jahre alt, hält ein Schild mit dem Namen unserer Gruppe hoch. Er stellt sich als Mr. Lee vor, einer unserer koreanischen Guides. «Nice to meet you», sagt er nervös. «Nice to meet you, too», antworte ich, nicht minder nervös. Später erfahre ich, dass er noch in Ausbildung ist und dies sein erster Einsatz mit einer Reisegruppe. Gut möglich also, dass ich der erste Ausländer bin, dem er begegnet.

Ich schaue mich im Flughafen um. Es gibt hier mehrere Läden. Die ausschliesslich weiblichen Verkäuferinnen sind ausschliesslich hübsch. In einem Getränkeladen kaufe ich zwei Flaschen Wasser. Man kann mit Euro, Dollar und chinesischen Yuan bezahlen – nordkoreanische Won werden wir während der gesamten Reise nicht zu Gesicht bekommen. Die freundliche Verkäuferin zeigt mir den Preis auf ihrem Taschenrechner. Ich runde auf drei Euro auf. Sie aber besteht darauf, mir Wechselgeld zu geben: zwei Kaugummis.

Als unsere Gruppe endlich vollzählig ist, stellt sich Miss Kim vor. Sie ist ebenfalls unser Guide. Wir steigen in einen grünen Bus. Dieser Bus ist in den nächsten Tagen unser kleiner Kosmos und Miss Kim unsere Führerin, die während unserer seltenen Aufenthalte im Freien jede Anstrengung unternehmen wird, uns zusammenzuhalten. Sie erklärt uns die koreanische Denkweise: Die Gruppe sei wichtiger als der Einzelne. Wir müssten als Einheit funktionieren und handeln. «Team Spirit!» lautet das Motto.

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Miss Kim bringt uns ein paar Ausdrücke auf Koreanisch bei. Zur Begrüssung sagt man «Annyeong-hasimnikka». Das kann sich aber keiner merken. Weiter lernen wir «Gapsida» und «Bali Bali», was so viel heisst wie «Los geht’s» respektive «Schnell, schnell!». Diese Ausdrücke werden wir häufiger zu hören bekommen.

Nach einer einstündigen Fahrt treffen wir im 1995 eröffneten Yanggakdo International Hotel ein. Am östlichen Ende einer Insel gelegen und vom Taedong-gang-Fluss umgeben, bietet es eine vorzügliche Aussicht über Pjöngjang. Noch im Bus werden wir von Miss Kim gebeten, das Hotel nicht zu verlassen, weil wir uns sonst verirren könnten. Wer für den Marathon trainieren möchte, könne dies im Parkareal des Hotels tun.

Die Stöcke zwei bis sieben sind für uns tabu. Unsere Zimmer liegen im zwanzigsten Stock, das Drehrestaurant oben im siebenundvierzigsten. Wir dürfen nur die Lifte benutzen, nicht die Treppen. Der Knopf für den fünften Stock fehlt. Manche spielen mit dem Gedanken, dem Rätsel nachzugehen.

Rechtzeitig erzählt mein Freund von Otto Warmbier, einem amerikanischen Studenten, der vor einem Jahr hier im Hotel war, sich in der Nacht in den fünften Stock schlich und dort Überwachungseinrichtungen und Propagandamaterial fand. Er klaute ein Poster. Am Tag seiner Abreise wurde er verhaftet und zu 15 Jahren Arbeitslager verurteilt.*

Ansonsten dürfen wir uns im Hotel frei bewegen. Im Keller finden wir einen Vergnügungsbereich: Bowlingbahn, Billardtische, Sauna, Hallenbad, Friseursalon und ein Massage-Studio, das von Chinesinnen betrieben wird. Das Casino ist verschlossen. Im Drehrestaurant kann geraucht werden, und es gibt einheimisches Bier. Die Preise sind Glückssache: Auf den Taschenrechnern der weiblichen Bedienungen erscheinen Beträge zwischen einem und fünf Euro pro Flasche.

Am zweiten Tag stehen wir früh auf. Wir frühstücken in einem der Restaurants des Hotels. Reis, Rührei, verschiedene Brote, lokales Gemüse, Suppe und – unerwartet, aber lecker – Schnitzel. Dazu gibt es Kaffee, Tee und Wasser. Das Wasser kommt aus einem Spender, den ein Angestellter mit Halbliter-PET-Flaschen immer wieder nachfüllen muss.

«Gapsida! Bali Bali!» Wir haben viel vor, es gibt eine Menge Monumente, Prachtgebäude und Statuen zu besichtigen. Wir beginnen mit dem Kriegsmuseum, auf dessen weitläufigem Vorplatz uns eine Frau in Militäruniform erwartet. Wir sehen einen imposanten Fahrzeugpark von erbeuteten amerikanischen Panzern, Artillerie, abgeschossenen Flugzeugen und Helikoptern. Nicht weit davon entfernt steht das Prunkstuck der Ausstellung: das 1968 gekaperte Spionageschiff «Pueblo», das einzige Schiff der US-Marine, das sich in den Händen einer fremden Macht befindet.

Nachdem wir uns im Museumsinnern vor den überlebensgrossen bronzenen Statuen der verstorbenen Ewigen Führer verbeugt haben, werden wir für zwei Stunden durch die Ausstellungsräume geführt. Leider, so teilt man uns mit, reiche es nur für einen sehr kleinen Teil des Museums. Danach steigen wir in den Bus und fahren weiter.

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In Pjöngjang sind zu jeder Tageszeit gut gekleidete Menschen zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind überfüllt, um Sitzplätze wird gekämpft. Autos sieht man nur wenige, aber offenbar mehr als noch vor ein paar Jahren. Immer wieder fallen uns Menschen auf, die die Gehwege wischen, Hauswände streichen oder Pflastersteine flicken.

Auch für diese Tätigkeiten werden schicke Kleider angezogen. Manchmal hocken welche mit einem kleinen Farbtopf und einem Pinsel mitten auf der Fahrbahn und ziehen die Verkehrsführungslinien nach. Trotz der vielen Menschen wirkt die Stadt leer. Erst mit der Zeit begreife ich, dass das an der fehlenden Werbung liegt.

Dafür wird fleissig gebaut. Betonplatten mit kleinen Fenstern: immer höher, immer klobiger. Gestrichen werden sie in hübschen Pastellfarben. Vor dem Anstrich sieht das Stadtbild ganz anders aus: graue Betonblöcke neben grauen Betonblöcken neben grauen Betonblöcken, die die Menschen winzig erscheinen lassen. Was die Volksrepublik im Überfluss zu haben scheint, sind Beton und Farbe. Glas und Stahl sind dagegen Mangelware.

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Als wir am dritten Tag unseres Aufenthalts, dem 9. April, zu früher Stunde beim Kim Il-sun Stadion eintreffen, ist dieses bereits voll. 50'000 Koreaner sollen auf den Rängen sitzen. Ihnen bietet sich folgendes Bild: Nachdem die einheimischen Profiläufer im wahrsten Sinn des Wortes einmarschiert sind, geordnet und im Takt, folgen ihnen die unorganisierten Ausländer, die, anstatt sich zu präsentieren, Fotos von den Zuschauern und sich selbst schiessen.

Als wir uns vor der Haupttribüne in Reih und Glied aufstellen sollen, wird es nicht besser. Verzweifelte Helfer versuchen wenigstens eine minimale Ordnung in das Chaos zu bringen. Vergebens. Viele scheinen nicht einmal zu begreifen, was man von ihnen will.

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Nach einer kurzen Ansprache geht es los. Gut gelaunte, am Strassenrand stehende Kinder strecken uns ihre Hände zu, wir klatschen ab. Beim Laufen habe ich erstmals seit der Ankunft das Gefühl von Freiheit. In der Reisegruppe und in diesem Land, wo alles genau vorgegeben und kontrolliert wird, wo wir uns nicht frei bewegen dürfen, da ist dieser Lauf, den ich allein und in eigenem Tempo absolvieren kann, eine kleine Freiheit, die ich sehr zu schätzen weiss. Und erstmals kann ich wirklich erahnen, was es heisst, nicht frei zu sein.

Zur Zufriedenheit und Erleichterung des ganzen Stadions gewinnt ein Koreaner den Marathon. Als wir zurück ins Hotel fahren, singt Guide Lee für uns. Ein melancholisches Lied, mit viel Gefühl. Es gibt nur wenig Licht in der Stadt, im Halbdunkeln huschen noch immer unzählige Menschen zwischen den Betonblöcken umher. Am Abend ist Miss Kim völlig erledigt. Aber sie hat es geschafft, die Gruppe zusammenzuhalten. Team Spirit!

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Nach fünf Tagen heisst es Abschied nehmen, von Pjöngjang, von Miss Kim und Guide Lee. Der grüne Bus bringt uns zum Flughafen, die alte Tupolev fliegt uns zurück nach Peking. Mein Freund und ich steigen erleichtert aus dem Flugzeug. Keine Gruppe mehr, keine Guides, endlich dürfen wir wieder selbst entscheiden. Wir sind zurück in der freien Welt, zurück in China.

Punkt

* Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin «PUNKTmagazin – Du bist Wirtschaft». Er wurde verfasst, kurz bevor der US-Student Otto Warmbier nach 17 Monaten aus nordkoreanischer Gefangenschaft freigelassen wurde und kurz darauf an einer mysteriösen Infektion starb. 

Der Autor Dennis Schenk ist Informatiker und Co-Gründer einer Digitalagentur. Er reist regelmässig an ungewöhnliche Orte. Jüngst absolvierte er ein Praktikum in einem Löwenreservat in Botswana.

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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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45rpm
20.06.2017 20:44registriert August 2016
"Wir sind zurück in der freien Welt, zurück in China."
Eine etwas bizarre Aussage, aber denselben Gedanken hatten wir auch, als wir aus Pjöngjang wieder zurück in Peking gelandet sind...
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Lutz Pfannenstiel
21.06.2017 08:46registriert Februar 2015
Dieses Bild mit den bemalten Wohnblocks von oben.... ich dachte zuerst, es sei retuschiert. Die Farbkombination wirkt ästhetisch, modern - welch irrwitziger Kontrast zur offenbaren Realität.
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Schnapphahn
20.06.2017 21:51registriert August 2015
Kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Bücher nicht grundsätzlich heikel bei der Einreise in die DPRK sind. Was die Beamten jedoch nur ungerne sehen sind Bibeln.
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