«Was mich nicht umbringt, macht mich stärker», pflegte Friedrich Nietzsche zu sagen. Besser könnte man die Situation der schottischen Nationalisten nicht beschreiben. Letztes Jahr noch wollten sie per Volksabstimmung die Unabhängigkeit erzwingen – und mussten eine bittere Klatsche hinnehmen.
Vor den Wahlen ins britische Unterhaus am 7. Mai ist die Scottish National Party (SNP) so stark wie noch nie. Umfragen zeigen, dass sie über 40 der insgesamt 56 Sitze, die den Schotten in Westminster zustehen, erobern könnten. «Die zweijährige Kampagne für das Referendum hat eine Pro-Unabhängigkeitsbewegung geschaffen, die vorher nicht da war, und es gibt sie immer noch», sagt Nicola McEwan von der University of Edinburgh in der «Financial Times.»
Der Erfolg der SNP ist untypisch für Europa. Anders als etwa der Front National in Frankreich oder die englische Ukip ist die SNP nicht reaktionär nationalistisch oder gar faschistoid. Sie gibt sich links-grün und gewinnt auf Kosten der Labour Partei. Die Konservativen spielen in der schottischen Politik keine Rolle. Es gibt bekanntlich im Zoo von Edinburgh mehr Pandabären (zwei) als schottische Tory-Abgeordnete im britischen Parlament (einen).
Die Konservativen verhalten sich zudem im Wahlkampf ungeschickt und setzen auf eine Angstpropaganda. Premierminister David Cameron warnt davor, dass die «SNP die neue Regierung erpressen» werde, und die Konservativen hängen derweil Plakate auf, die den Labour-Chef Ed Milliband en miniature in einer Brusttasche der SNP zeigen. «Das ist Gratiswerbung für uns», freuen sich die Nationalisten.
Die SNP könnte bald das Zünglein an der Waage in Westminster spielen. Sollten die Wahlresultate die Umfragen bestätigten, dann wird es nach dem 7. Mai zu einem «hung parliament» kommen, will heissen, es wird keine klare Mehrheit, sondern eine Koalitionsregierung geben.
Was in Europa längst normal ist, ist auf der Insel immer noch eine misstrauisch beäugte Ausnahme. Um Pattsituationen zu vermeiden und klare Verhältnisse zu schaffen, setzten die Briten auf das Majorzsystem. Doch auch diesmal wird es wie vor fünf Jahren kaum klappen. Damals waren die Konservativen gezwungen, mit den Liberalen zu regieren. Diesmal ist es wahrscheinlich, dass Labour zusammen mit der SNP und allenfalls mit den Grünen die Regierung bilden werden.
Für den Höhenflug der Nationalisten ist eine Frau verantwortlich, Nicola Sturgeon. Sie hat den etwas griesgrämigen Alex Salmond an der Spitze des SNP abgelöst und erweist sich nun als brillante Wahlkämpferin. Sollte Sturgeon die jetzt sehr hohen Erwartungen erfüllen und in Schottland abräumen, dann wäre die Unabhängigkeitsfrage unverhofft wieder aktuell – und die mehr als 300-jährige Ehe von Schotten und Engländern wieder ernsthaft in Gefahr.