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Milo Rau: «Meine Pariser Freunde machen Dschihad-Witze»

Milo Rau 2013 an der Eröffnungssitzung seines Stücks «Die Zürcher Prozesse» im Theater Neumarkt in Zürich.
Milo Rau 2013 an der Eröffnungssitzung seines Stücks «Die Zürcher Prozesse» im Theater Neumarkt in Zürich.
Bild: KEYSTONE
Interview

Skandal-Regisseur Milo Rau: «Meine Pariser Freunde machen Dschihadisten-Witze»

Der Schweizer Regisseur Milo Rau begleitete im belgischen Molenbeek zwei Jahre lang radikal-islamische Jugendliche, um die Anziehung des Dschihad zu verstehen. Ein Gespräch über hausgemachten Terrorismus, fehlende Vaterfiguren und eine traurige Pointe.
28.11.2015, 09:1801.12.2015, 13:31
pascal ritter
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Der Schweizer Regisseur Milo Rau war in Molenbeek, lange bevor Abdelhamid Abaaoud aus dem Vorort von Brüssel aufbrach, um in Paris ein Blutbad anzurichten. In den Jahren 2013 und 2014 recherchierte er dort für «The Civil Wars». Ausgangspunkt des Theaterstückes ist die Geschichte eines jungen Belgiers, der nach Syrien aufbricht, um dort gegen Bashar al-Assad zu kämpfen.

Herr Rau, 2014 sagten Sie, die Salafisten wollten in Europa nicht die Macht übernehmen, von dieser Seite drohe kein Bürgerkrieg. Nun hat Paris das Gegenteil bewiesen. Sie haben sich geirrt.
Milo Rau: Nein, das denke ich nicht. Eine Machtergreifung konservativer Islamisten in Europa, wie sie etwa Michel Houellebecq in «Unterwerfung» beschreibt, ist in den letzten zwei Jahren sehr viel unrealistischer geworden. Seither hat sich der Fokus verschoben, der «IS» hat im Nordirak sein Kalifat errichtet. Es hat eine gewaltige Emigration von salafistischen Terroristen aus Westeuropa in den Nahen Osten stattgefunden. Zudem ist seit den Anschlägen gegen «Charlie Hebdo» die Abgrenzung gegen Werte, die als nicht europäisch gelten, stärker denn je. Wir haben nun unseren eigenen «War on Terror», von der Rhetorik bis zu aktiven Kriegseinsätzen. Der Multikulturalismus der Nullerjahre, dem Übertoleranz vorgeworfen wurde, ist durch einen imperialen Neohumanismus ersetzt worden.

Milo Rau
Milo Rau (38) ist ein Schweizer Regisseur und Autor. Bekannt wurde er für Stücke wie «Die letzten Tage der Ceausescus» und «Hate Radio», in denen geschichtliche Ereignisse nachgespielt werden (Reenactment). Zuletzt sorgte er mit dem Stück «Breiviks Erklärung» für Schlagzeilen, in dem die Argumente des norwegischen Massenmörders vorgetragen werden. In Moskau kam es 2013 zu einer Razzia gegen die Aufführung des Stücks «Die Moskauer Prozesse», eines fiktiven Prozesses gegen die Punk-Band Pussy Riot. In einem ähnlichen Prozess liess er Schauspieler und reale Personen im Neumarkttheater über die «Weltwoche» verhandeln. Zur Zeit probt er «Mitleid. Geschichte des Maschinengewehrs» in Paris. Sein Stück «Civil Wars» handelt auch von einem belgischen Salafisten, der nach Syrien reisen will. Rau studierte in Paris, Berlin und Zürich. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er den Konstanzer Konzilspreis. (rip)

Sie waren bei Ihren Recherchen für Ihr Stück «The Civil Wars» auch im Brüsseler Vorort Molenbeek, der Heimat des Drahtziehers der Attentate, Abdelhamid Abaaoud.
Ende 2013, Anfang 2014 begleitete ich verschiedene Familien, deren Söhne in den Dschihad gezogen waren. Da gab es, wie gesagt, den «IS» in einer staatlichen Form noch nicht. Die Dschihad-Reisenden, die ich kennenlernte, schlossen sich der Nusra-Front, manchmal sogar der Freien Syrischen Armee an, das ist heute unvorstellbar. Ich sprach auch mit einem Vater, der seinen Sohn im syrischen Bürgerkrieg suchte.

Hat er ihn gefunden?
Ja, sie kamen zusammen zurück. Der Sohn musste daraufhin ins Gefängnis, wo wir ihn öfters besucht haben. Nachdem er wieder freikam, ist er zusammen mit seinem Vater wieder nach Syrien gegangen. Das ist die traurige Pointe dieser Geschichte, die ich im Epilog des Stücks erzähle.

Sie sagen, das seien andere Zeiten gewesen. Was ist der Unterschied zwischen den Leuten, mit denen sie 2013, Anfang 2014 Kontakt hatten und den heutigen «IS»-Kämpfern?
Damals gingen diese jungen Männer nach Syrien, um Bashar al-Assad zu bekämpfen. Ihr Kampf hatte gewissermassen eine realpolitische, auch eine soziale Berechtigung: Sie wollten ihre Glaubensbrüder von einem Diktator befreien. Ich habe damals lange Gespräche geführt mit Imamen über religiöse Fragen, über die weltweite Gemeinschaft der Muslime. Die Dschihadisten, die nun nach Syrien oder in den Nordirak reisen, befreien niemanden. Sie terrorisieren die Bevölkerung, sie sind für mich nur noch kriminelle Mörder.

«Der Unterschied etwa zum 11. September ist ja gerade, dass die Attentäter nicht von aussen eingeflogen wurden. Die Terroristen von Paris sind junge Franzosen und Belgier, einige noch Teenager.»
Milo Rau

War es nicht naiv, den Islamisten damals so viel Verständnis entgegenzubringen?
Als Regisseur versuche ich, die Motive von Menschen zu verstehen, auch wenn ich nicht mit ihnen einverstanden bin. Im Übrigen ist es ein grosser Unterschied, ob man gegen Assad in den Krieg zieht oder im Irak die Zivilgesellschaft drangsaliert. Das Erste kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen, das Zweite ist inakzeptabel. Ich selbst würde zwar nie mit einem Gewehr in der Hand in ein anderes Land gehen. Aber 2013 hatte das noch etwas von den Spanienkämpfern, die in den 30ern gegen Francos Faschismus kämpften.

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Sie haben sich damals die Frage gestellt, was junge Europäer dazu bringt, in den Nahen Osten zu gehen, um zu kämpfen. Jetzt stellt sich die Frage andersherum: Warum kommen sie zurück und verüben hier Anschläge?
Diese Fiktion eines weltumspannenden Terror-Kalifats ist eine reine Medienstrategie. Es geht darum, zu zeigen: Wir können überall zuschlagen. Aber wir sehen hier das Resultat einer Radikalisierung, die im europäischen Inland stattgefunden hat. Der Unterschied etwa zum 11. September ist ja gerade, dass die Attentäter nicht von aussen eingeflogen wurden. Die Terroristen von Paris sind junge Franzosen und Belgier, einige noch Teenager. Das sieht man daran, dass der Anschlag in Paris extrem unprofessionell war: Das waren Jungs mit Kalaschnikows, die drauflos geballert haben. Al Kaida dagegen arbeitete mit kleinen Zellen von Terror-Profis. Flugzeuge synchron in Gebäude fliegen zu lassen, ist eine logistische Meisterleistung. Was wir in Paris gesehen haben, ist eine unberechenbare Jugendbewegung.

Aber die sind doch auch aus dem Gebiet des «IS» in Syrien und Irak gesteuert.
Nein, mit dem [sogenannten] «Islamischen Staat» hat das nur ideell etwas zu tun – auch wenn sich der «IS» natürlich zu den Anschlägen bekennt. Schauen Sie sich nur an, wie unglaublich dilettantisch die Attentäter vorgingen. Da steht keine professionelle Organisation dahinter, und genau das ist ja das Gefährliche: Man kann nicht Tausende europäische Jugendliche, die eventuell bereit sind für solche Aktionen, ständig überwachen.

In Ihrem Theaterstück «The Civil Wars» geht es auch um abwesende Vaterfiguren. Was haben die Anschläge von Paris mit zerrütteten Familien zu tun?
Der abwesende Vater ist eine zentrale Metapher des Stücks. Aber sozialpsychologisch kann man die Pariser Anschläge letztlich nicht erklären. Man kann nicht sagen: Wenn diese jungen Dschihadisten inspirierende Väter – die Mütter zählen in diesem Milieu ja leider kaum als Vorbilder – gehabt hätten und ihre Vorbilder nicht in radikalen Imamen hätten suchen müssen, wären sie vielleicht nicht zu Terroristen geworden. Das gilt auch für andere Faktoren: Die radikalisierten Jugendlichen haben häufig eine schlechte Bildung, kommen aus Quartieren ohne reale Aufstiegschancen. Aber das erklärt noch nicht, warum sie Terroristen wurden. Es gibt keine direkte Kausalität zwischen diesen Faktoren und dem Terror.

«Man muss diesen Teenagern eine Chance in unserer Gesellschaft geben: Bildung, einen Arbeitsplatz, eine reale gesellschaftliche Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach Transzendenz und Heroismus auszuleben.»
Milo Rau

Was können wir tun?
Man muss den «IS» bekämpfen. Aber man darf dabei nicht vergessen: Die Terroristen, die in Frankreich zugeschlagen haben, sind alles Europäer. Das Problem ist also innenpolitisch, europäisch. Wenn man schon eine Grenze um Europa ziehen will, muss man den Stacheldraht nach innen wenden. Es gehen Tausende Europäer in den Nahen Osten, um dort zu morden und einen Bürgerkrieg zu veranstalten. Die Gegenbewegung ist komplett unbedeutend, es gibt kaum Rückkehrer. Etwas anderes zu behaupten, zeugt schlichtweg von Unkenntnis.

Aber die Terroristen sind doch Einwanderer.
Was heisst Einwanderer? In den meisten Fällen sind das Leute der zweiten oder sogar dritten Generation, Bürger ihrer jeweiligen Länder. Sehr viele sind Konvertiten, ohne jeden Migrationshintergrund. Aber wie dem auch sei, diese Sache ist und bleibt ein innenpolitisches Problem. Man muss diesen Teenagern eine Chance in unserer Gesellschaft geben: Bildung, einen Arbeitsplatz, eine reale gesellschaftliche Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach Transzendenz und Heroismus auszuleben. Und das muss man klar trennen vom geopolitischen Problem dieses wahnwitzigen Pseudo-Kalifats. Die Invasionen im Irak oder in Afghanistan, die durchgehend zynische Syrien-Politik der EU, der Türkei, des Iran, Saudi-Arabiens und Russlands haben die ganze Region ins Chaos gestürzt. Zuerst braucht es hier eine Lösung. Erst dann kann man erfolgreich gegen den «IS» vorgehen.

In einem Vorgespräch für dieses Interview gaben Sie sich wenig erstaunt über die Anschläge. Ich verstehe, dass Sie angesichts der permanenten Anschläge in Syrien oder jüngst in Mali signalisieren wollen, dass ein Menschenleben in Europa nicht mehr wert ist als weiter weg. Aber Sie haben in Paris studiert, proben zur Zeit in Paris. Ich kaufe Ihnen nicht ab, dass Sie das nicht mitgenommen hat.
Natürlich haben die Anschläge mich betroffen gemacht. Ich habe mich sofort bei meinen Pariser Freunden erkundigt, wie es ihnen geht, habe auf Facebook nachgeguckt, ob sie in Sicherheit sind. Von denen, die an dem Abend tatsächlich im Bataclan waren, kannte ich zum Glück niemanden persönlich. Aber ich habe im Rahmen meiner Arbeit oft mit Massengewalt zu tun. Im Rahmen der Arbeit am «Kongo Tribunal» habe ich im Ostkongo Massaker hautnah miterlebt, mehrere unserer Mitarbeiter wurden entführt. Das führt mit der Zeit vermutlich zu einem etwas kühleren Blick.

«Vor unseren Augen entsteht ein Funktionärs- und Militärstaat: Wir gegen die Anderen.»
Milo Rau

Wie erleben Sie Paris im Moment?
Die Menschen sind extrem gelassen. Ich erwartete zunächst, dass die Leute sich ängstlich umdrehen, wenn im Bistro die Türe aufgeht. Das ist nicht der Fall. Es ist keine Hysterie zu spüren. Im Gegenteil, meine Pariser Freunde machen Dschihadisten-Witze.

Angriff auf Paris
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Dschihadisten-Witze?
Ja, zum Beispiel diesen: Zwei Terroristen treffen sich in Saint-Denis. Fragt der eine: «Was machst du heute Abend?» Sagt der andere: «Ich gehe nach Paris und lasse es krachen.» Manche verarbeiten die Ereignisse eben mit Humor, vielleicht nicht die schlechteste Strategie.

Nun patrouillieren Militärs in den Strassen und an den Bahnhöfen stehen Polizisten mit Maschinenpistolen. Auch in der Schweiz. Im dritten Teil Ihrer Europa-Trilogie «Empire» zeichnen Sie unter anderem die Dystopie eines Militärstaats Europa. Wird er nun früher wahr, als Sie gedacht haben?
Das Entscheidende wird die Reaktion unserer Politiker und der Zivilgesellschaft sein. Tatsächlich kann man nun sehen, wie eine imperiale Ideologie der Intervention gegen aussen und der Überwachung gegen innen sämtliche aufklärerischen Werte aufsaugt. Vor unseren Augen entsteht ein Funktionärs- und Militärstaat: Wir gegen die Anderen. Das zu beobachten, ist genauso interessant wie beunruhigend.

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24 Kommentare
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Toerpe Zwerg
28.11.2015 10:08registriert Februar 2014
Unaufgeregt, praezise, gescheit. Gefaellt mir sehr gut Herr Rau.
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28.11.2015 09:45registriert März 2014
Fein analysiert. Mir macht die Reaktion unserer Politiker und besorgter Bürger (vgl. Raus letzte Antwort) weit mehr Sorgen als die (reale) Bedrohung durch Terrorismus. Es hat ja längst begonnen. Als ob ein Funktionärs- und Militärstaat die Lösung wär. Im Gegenteil.
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