Brief von Robert, November 2014: In jedem Gefängnisblock, in dem ich je war, entwickeln sich die Stimmen der Gefangenen gegen Abend zu einem aufgeregten Summen. Denn jeden Abend kommt die Post. Dann, wenn die Wärter Schichtwechsel haben, werden auch die Briefe verteilt. Sobald die neuen Wärter ihre Schicht antreten, ist die Spannung in den Zellen förmlich spürbar: Die Jungs fangen an laut zu reden, einige singen sogar – bis die Wärter endlich von Zelle zu Zelle schreiten und die eingegangenen Briefe an uns verteilen.
Robert ist einer von Ines Auberts Brieffreunden. Aubert ist eine 56-jährige Schweizerin mit einem sehr ungewöhnlichen Hobby: Sie schreibt Briefe an Männer, die in den USA im Todestrakt sitzen.
Ines Aubert öffnet ihre Haustür mit einem Lächeln auf den Lippen und wechselt sofort zum Du. Ein Blick in ihr Gesicht zeigt: Diese Frau hat schon einiges erlebt – und bestimmt schon einiges gelesen. Die 56-Jährige schreibt mehrere Briefe pro Woche. Und das seit 16 Jahren. Ihre Brieffreunde könnten unterschiedlicher nicht sein, und doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie wurden zum Tode verurteilt.
An ihren allerersten Brief kann sich Aubert noch gut erinnern. «Ich war natürlich sehr aufgeregt», schmunzelt sie und erzählt weiter: «Ich habe den Nachnamen ‹Rosales› für den Vornamen gehalten und gedacht, ich schreibe einer Frau.»
Ihre Post geht immer in die USA. Denn die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine der wenigen Industrienationen, die weiterhin an der Todesstrafe festhalten. 2016 wurden 31 Personen zum Tode verurteilt. Die meisten Häftlinge warten in den Todeszellen der Bundesstaaten Kalifornien, Florida und Texas auf ihre Exekution. Aus diesen Staaten kommen auch die meisten von Ines Auberts Brieffreunden.
«Ein Hund kann in der Schweiz nicht auf so kleinem Raum gehalten werden wie viele dieser Gefangenen. Einige sitzen 30 bis 40 Jahre im Todestrakt – und warten auf den Entscheid. Sie leben in winzigen Zellen, haben keinerlei Beschäftigung, dürfen weder arbeiten noch Fernseh schauen und nur einmal pro Tag für eine Stunde an die frische Luft», sagt die Frau mit den aufmerksamen blauen Augen und ergänzt: «Für sie ist ein Brief das Highlight des Tages.» Ein paar Buchstaben auf einem Fetzen Papier sind meist der einzige menschliche Kontakt.
Die Schweizer Non-Profit-Organisation Lifespark, bei der auch Ines Aubert ein aktives Mitglied ist, setzt sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein und vermittelt den zum Tode Verurteilten Brieffreunde. «Wir haben rund 130 Gefangene auf der Warteliste», erklärt Aubert. Doch was motiviert einem dazu, mit einem Mörder eine Freundschaft auf Papier einzugehen?
«Solidarität», kommt es von Ines Aubert wie aus der Pistole geschossen. «Wo wir geboren werden, ist schlicht und einfach Zufall. Ich hatte einfach Glück und konnte in einem reichen Land wie der Schweiz aufwachsen. Viele dieser Häftlinge haben eine schlimme Kindheit hinter sich, haben vielleicht auch nie gelernt zu lieben. Und trotz ihrer zum Teil fürchterlichen Taten sind sie am Ende des Tages Menschen.»
Die Briefkontakte würden sie auch persönlich bereichern. «Ich lerne viel über das Leben in den USA und im Todestrakt. Die Gespräche über alle möglichenThemen erweitern meinen Horizont. In Bezug auf mein eigenes Leben bekomme ich manchmal sogar nützliche Ratschläge von meinen Brieffreunden. Wir begegnen uns auf derselben Ebene.»
Dennoch: Einige der Briefe sind nur schwer zu ertragen. Da war etwa ihr Brieffreund Casper, der Dutzende Frauen und Kinder brutal vergewaltigt hat. Er verstarb vor sieben Jahren an Krebs. Die Brieffreundschaft mit ihm prägte Aubert sehr. So beschrieb Casper ihr einst sehr detailgetreu seine Taten.
Das Geschriebene war kaum auszuhalten. «Das alles zu lesen war grauenvoll. Doch für Casper war es ein Teil der Verarbeitung, am Ende hat er auch bereut», sagt Aubert und meint weiter: «Ich halte ihn dennoch nicht für ein Monster. Es gibt in meinen Augen keine Monster. Er ist und bleibt ein Mensch, der uns einfach aufzeigt, wie breit das Spektrum des menschlichen Handelns sein kann. Ich habe Casper sehr gern gehabt.»
Aubert geht es nicht um Mitleid oder darum, Almosen zu verteilen. Das sei die falsche Motivation, um eine Brieffreundschaft zu starten. «Man nimmt den Gefangenen nicht ernst und setzt sich selbst auf eine höhere Stufe, wenn man mit dem Ansporn, eine gute Tat zu vollbringen, eine Brieffreundschaft startet», so Aubert. Es gehe vor allem um den menschlichen Kontakt, um den Austausch, der den Personen im Todestrakt völlig abgeht.
Mit einer «penpalship», wie es auf Englisch heisst, übernehme man viel Verantwortung. «Man darf nicht naiv sein», erklärt Aubert und sagt weiter: «Manche Gefangene sind nicht ehrlich – wollen einem Geld abknöpfen oder lügen einem das Blaue vom Himmel herunter. Das muss man sich einfach bewusst sein, aber es soll kein Grund sein, keine Brieffreundschaft zu beginnen. Lifespark brüstet sich auch nicht damit ‹ehrliche Gefangene› zu vermitteln, sondern schlicht und einfach Briefkontakte.»
Vermittelt hat Lifespark bereits um die 1500 Brieffreundschaften. Es melden sich primär Frauen – nur ein Viertel der Interessenten ist männlich. Liebesbriefe sind an der Tagesordnung. «In fast jeder Brieffreundschaft liest man irgendwann ein paar romantische Zeilen. Hier spielt es einfach eine Rolle, wie man persönlich darauf reagiert», sagt Aubert. Für sie sei sei eine lang anhaltende und nachhaltige Freundschaft ohne romantische Absicht viel wichtiger als ein leidenschaftliches Strohfeuer, wie sie es beschreibt.
«Ich habe zum Beispiel einen langjährigen Brieffreund, der hatte einige romantische Techtelmechtel, wollte sogar ein paar Mal heiraten. Die Frauen sind gekommen und gegangen, aber ich bin – als gute Freundin – geblieben», schmunzelt Aubert.
Wie erklärt sie sich diese, vor allem weibliche, Faszination für Häftlinge? «Ich verurteile diese Frauen nicht, und es geht mich auch nichts an», sagt sie und führt aus: «Ich denke, es ist primär die sichere Distanz. Der Kontakt beschränkt sich lediglich auf Papier. Und wenn man sich verliebt, bleibt man einfach auf Wolke sieben sitzen. Dieser Zustand des Frisch-verliebt-Seins löst sich nicht auf, weil sich nie ein Alltag einstellt», sagt Aubert. Auch wenn man seinen Gefangenen besucht, gibt es nie so etwas wie eine Normalität. «Aber Lifespark ist keine Partnervermittlung, ich weiss von unzählig schönen Brieffreundschaften ohne Liebesgeschichte», ergänzt Aubert.
Aubert besucht ihre Brieffreunde wenn möglich einmal im Jahr. «Die erste Begegnung ist immer sehr speziell und aufregend», sagt sie mit strahlenden Augen. Die Insassen freuen sich sehr über den Besuch. Die Besuchszeit beschränkt sich auf je vier Stunden verteilt auf zwei Tage.
Über was unterhält man sich, wenn man sich eigentlich schon alles geschrieben hat? «Gott und die Welt, jedes kleinste Detail interessiert, da gibt’s jeweils ganz viel zu besprechen», sagt Aubert mit einem Lächeln. Das Echo des Besuches halle bei den Gefangenen oft monatelang nach. «Wenn man wenig von etwas hat, dann verarbeitet man das viel intensiver», so Aubert.