Einen Tag nach der Einnahme von Afrin hat die siegreiche türkische Seite genauere Angaben über ihren Rückzug aus dem syrischen Gebiet vermieden. Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte sogar mit einer Ausweitung der Offensive.
«Wir sind keine Besatzer», sagte der türkische Regierungssprecher Bekir Bozdag am Montag. Die Türkei habe keine Absicht, langfristig in Afrin zu bleiben. Ziel der Türkei sei es, die Region «vom Terror zu säubern» und sie «ihren rechtmässigen Besitzern zurückzugeben».
Bozdag, der auch stellvertretender Ministerpräsident ist, liess aber offen, wer mit den «wirklichen Besitzern» Afrins gemeint sind und wann genau mit einem Abzug zu rechnen sei. Vergangene Woche hatte ein Sprecher des türkischen Präsidenten Erdogan gesagt, die Türkei wolle das Gebiet nicht an die Machthaber in Damaskus zurückgeben.
Syrien forderte unterdessen in einem Schreiben an die UNO den sofortigen Abzug der türkischen Armee von seinem Territorium. «Die Erklärung des Präsidenten des türkischen Regimes, dass seine Invasionstruppen Afrin kontrollieren, ist rechtswidrig», hiess es in dem Schreiben.
Der türkische Präsident Erdogan drohte am Montag mit einer Ausweitung der Offensive nach Ostsyrien und einem Einmarsch in den benachbarten Irak. Im Visier sind dabei weitere von der Kurdenmiliz YPG kontrollierte Gebiete sowie «Terrorcamps» der in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak. Sollte Bagdad nicht agieren, wolle die Türkei diese Ziele «wenn nötig anhaltend unter Kontrolle bringen», warnte Erdogan.
Die türkische Armee und verbündete Kämpfer der so genannten Freien Syrischen Armee (FSA) hatten die Stadt Afrin am Sonntagmorgen in ihre Hand gebracht, nachdem sich die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kampflos zurückgezogen hatten. Es ist für die Türkei der grösste Erfolg seit Beginn der Afrin-Offensive im Januar.
Plünderungen durch pro-türkische Einheiten gingen am Montag weiter, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Nach der Einnahme der Stadt waren Autos, Lastwagen und Traktoren zu sehen, die Nahrungsmittel, Elektrogeräte, Decken, Schafe und Motorräder abtransportierten.
Der frühere Vorsitzende der Syrischen Nationalen Koalition (SNC), Chaled Chodscha, verurteilte die Plünderungen in Afrin. Für «Banditen und Wegelagerer» könne es unter den Rebellen keinen Platz geben.
Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, forderte am Montag in Genf freien Zugang nach Afrin. Die Zivilbevölkerung habe das Recht auf unparteiische Hilfe und das Recht zu bleiben oder wegzuziehen. Der Türkische Rote Halbmond sei dort ungeeignet für humanitäre Hilfe.
Die US-Regierung erklärte sich besorgt über humanitäre Lage in Afrin. Es scheine, als sei die Mehrheit der Bevölkerung der überwiegend kurdischen Stadt nach Androhung eines türkischen Angriffes in Sicherheit gebracht worden, erklärte die Sprecherin des Aussenministeriums, Heather Nauert, am Montag. Dies verschärfe die ohnehin alarmierende humanitäre Situation in der Region zusätzlich. Man sei «zutiefst beunruhigt».
Die Türkei hatte die Offensive am 20. Januar gestartet, um die kurdischen YPG-Einheiten aus Afrin zu vertreiben. Ankara sieht die Präsenz der YPG an der Grenze als Bedrohung, da die Gruppe eng mit der PKK verbunden ist. Nachdem die Offensive lange nur langsam vorangekommen war, kreisten die türkischen Kräfte vor einer Woche die Stadt Afrin ein. Die YPG hatte zuvor mit Unterstützung der USA gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gekämpft.
Rund 250'000 Zivilisten flohen laut der in Grossbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus der Stadt, bevor sich der Belagerungsring schloss. Für die kurdische Miliz ist der Verlust von Afrin ein schwerer Schlag, während die Türkei damit ihr Einflussgebiet erheblich ausweiten kann.
Der Sicherheitsexperte Nicholas Heras sieht die Einnahme Afrins als grossen Erfolg für den türkischen Präsidenten Erdogan. Afrin sei strategisch sehr wichtig und werde die Präsenz der Türkei in Syrien auf Jahre sichern, sagte der Wissenschaftler vom Center for a New American Security in Washington, USA.
Nach Zählung der Beobachtungsstelle wurden bei der Offensive mehr als 1500 YPG-Kämpfer, 400 pro-türkische Rebellen und 46 türkische Soldaten getötet. Laut der oppositionsnahen Beobachtungsstelle, die ihre Informationen von Ärzten und Aktivisten vor Ort bezieht, gab es zudem 280 Tote unter den Zivilisten. Die Türkei bestreitet diese Angaben.
Am anderen Brennpunkt des Syrien-Kriegs, in Ost-Ghuta in unmittelbarer Umgebung von Damaskus, mehrten sich die Anzeichen einer Niederlage der Rebellen. Das russische Militär meldete nach einem Bericht der Nachrichtenagentur TASS die Flucht von Tausenden Menschen. (sda/afp/dpa/reu)