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Terrorismus

Instant-Terrorismus: Wir können mit der Angst leben

epa05427102 People gather in front of the memorial set on the 'Promenade des Anglais' where the truck crashed into the crowd during the Bastille Day celebrations, in Nice, France, 15 July 20 ...
Trauer um die Terroropfer von Nizza.
Bild: IAN LANGSDON/EPA/KEYSTONE

Nicht schon wieder!!! Warum wir lernen müssen (und werden), mit der Angst zu leben

Der Terrorismus hat eine neue, schockierende Dimension erhalten. Im Eiltempo radikalisierte Einzeltäter können jederzeit, überall und wahllos zuschlagen. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr sicher. Dabei war das Leben nie sicher.
22.07.2016, 10:3023.07.2016, 17:37
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Wer hatte diesen Gedanken nicht, irgendwann in den letzten Tagen? «Nicht schon wieder!», zuckte es reflexartig im Gehirn, als beim Blick aufs Handydisplay einmal mehr eine Meldung des Schreckens angezeigt wurde. Lastwagenterror in Nizza am 14. Juli, Putschversuch in der Türkei einen Tag später, Zugterror in Würzburg am Montag, immer am Abend, kurz vor der Nachtruhe.

Die Ereignisse der letzten Tage haben manche um den Schlaf gebracht. Viele Menschen fühlen sich überfordert, sie denken, die Welt sei aus den Fugen geraten. Die Tatsache, dass fanatisierte Gewalttäter überall, jederzeit und wahllos zuschlagen können, lässt das Sicherheitsgefühl den Bach hinab gehen. Die Folge sind paranoide bis hysterische Reaktionen.

Aber ist die Welt wirklich so viel schlechter geworden?

Nizza am Tag danach

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Nizza am Tag danach
Der Morgen nach der Terrornacht: Bestürzung und Konsternation bei den Einwohnern von Nizza.
quelle: x00102 / eric gaillard
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Unsere Vorfahren würden sich über solche Fragen wundern. Im Vergleich mit ihnen geht es uns prächtig. Wer nicht zur schmalen Schicht der Privilegierten gehörte, für den war das Leben ein einziger Überlebenskampf. Wer 40 Jahre alt wurde, galt schon als Greis. Und noch immer leben viele Menschen unter uns, die die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib erfahren haben. Damals war die Welt wirklich aus den Fugen geraten.

Wie ein Brandbeschleuniger

Solche Vergleiche haben jedoch eine Kehrseite. Gerade weil unsere Welt vergleichsweise sicher und stabil ist, nehmen wir Verwerfungen besonders intensiv wahr. Online-Medien und Social Media wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger. Den Putschversuch in der Türkei konnten wir faktisch in Echtzeit verfolgen. «In Tat und Wahrheit ist es nicht die Welt, sondern die Wahrnehmung von ihr, die aus den Fugen geraten ist», schrieb der Politologe Michael Hermann im «Tages-Anzeiger».

Hinzu kommt ein unheimliches Phänomen, das man als Instant-Radikalisierung bezeichnen könnte. Sowohl der Attentäter von Nizza wie jener von Würzburg waren nie als übertrieben religiös aufgefallen. Erst unmittelbar vor der Tat scheinen sie sich in einer Art Schnellbleiche mit extremistischem Gedankengut imprägniert zu haben. Ähnliches gilt für den Anschlag in Orlando. Der Täter war zwar im Visier des FBI, aber nichts deutete auf Terrorpläne hin.

Solche Menschen können selbst in einem Polizeistaat kaum aufgespürt und nur mit enormem Aufwand gestoppt werden. Das macht Angst und erzeugt dieses nagende Gefühl der Hilflosigkeit. Was wiederum zu Schnellschuss-Forderungen à la Donald Trump verleitet, Muslimen die Einreise zu verbieten. Wie er die Muslime identifizieren will, hat Trump nie erklärt.

Militärputsch in der Türkei

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Militärputsch in der Türkei
Die Türkei stellt nach dem vereitelten Militärputsch die Gefangenen zur Schau: Der Nachrichtensender CNN veröffentlichte diese Bilder von halbnackten Verhafteten, wie sie offenbar in einem Lagerraum gefesselt gehalten werden. (Quelle: CNN)
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Die Turbulenzen der letzten Tage führen uns auch schmerzhaft vor Augen, dass unsere Werte, basierend auf Aufklärung und Liberalismus, keineswegs universell sind. Sie haben, wenn überhaupt, nur in Europa, Nordamerika sowie Australien und Neuseeland Wurzeln geschlagen. In Lateinamerika ist dies bereits viel weniger der Fall, von anderen Weltregionen ganz zu schweigen.

Backlash gegen Säkularisierung

Versuche, archaische Gesellschaften durch Reformen von oben zu «modernisieren», hatten wenig Erfolg. Beispielhaft dafür ist die Türkei. Kemal Atatürk hatte ihr nach dem Ersten Weltkrieg die Säkularisierung verordnet, unter anderem durch die Übernahme des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Die ländliche Bevölkerung Anatoliens wurde davon kaum berührt, die kemalistische Elite blickte vielmehr mit Verachtung auf die ungebildeten «Bauern» hinab.

Heute ist der Backlash im Gang, in Gestalt von Recep Tayyip Erdogan. Er stammt aus diesem Milieu und hat es bis nach ganz oben geschafft. Gleichzeitig verhalf er den Menschen in der Provinz mit seinen Wirtschaftsreformen erstmals zu einem gewissen Wohlstand. Wen wundert es da, dass sie Erdogan wie einen Gott verehren?

Die Folgen erlebt man nach dem gescheiterten Putschversuch, der nahtlos in einen Staatsstreich der AKP überzugehen scheint. Mit einem Furor ohnegleichen werden alle Bereiche des Staates von Gegnern und Kritikern der islamistischen Regierung «gesäubert». Die Verschwörungstheorie, wonach der Putsch von Erdogan inszeniert war, ist dennoch Unsinn. Es war wohl ein verzweifelter Versuch der Kemalisten, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Bewirkt hat er das Gegenteil.

Der Dokumentarfilm «100 Jahre Krieg in Nahost» zeigt die Folgen der westlichen Interventionen.YouTube/1000Dokus

Weitere Beispiele für einen Backlash gegen die Zwangssäkularisierung gibt es zur Genüge. Der Schah wollte den Iran modernisieren. Das Resultat waren Ajatollah Khomeini und die islamische Revolution. Der Sturz des säkularen Diktators Saddam Hussein im Irak durch die USA brachte nicht die von den Neokonservativen herbeifantasierte prowestliche Musterdemokratie hervor, sondern ein proiranisches Regime, das das Zweistromland tief gespalten hat.

Der Einfluss des Westens

Die Interventionen des Westens im Nahen Osten sind ohnehin ein trübes Kapitel. Sie leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Aufkommen des islamischen Extremismus, wie eine diese Woche ausgestrahlte ARD-Dokumentation eindrücklich aufzeigt. Und sie lieferten die Grundlage für die antiwestliche Stossrichtung des islamistischen Terrors. Wer ihn auf die gewalttätigen Passagen im Koran reduziert, hat nichts aus der Geschichte gelernt.

Das führt aber auch zur Erkenntnis, dass die Gewalt nicht so schnell aus unserem Leben verschwinden wird. Wir können mit Repression gegen Muslime reagieren, doch damit würden wir genau das machen, was sich Al Kaida, IS und Konsorten erhoffen. Oder wir lernen, mit der Bedrohung umzugehen. Risiken sind Teil unseres Lebens, wir haben diese Tatsache mehr oder weniger bewusst akzeptiert. Wer das nicht kann, sollte seine Tage im Bett verbringen.

Positive Beispiele fördern

Natürlich wirken Appelle dieser Art oft etwas billig und hilflos. Mit dem Terror leben bedeutet aber nicht, dass wir den Terror akzeptieren müssen. Die Radikalisierung ist keine Einbahnstrasse, es gibt auch eine Gegenbewegung in Gestalt von Aussteigern. Ein Beispiel ist der Deutsche Dominic Musa Schmitz, der als Teenager konvertierte und zum Salafisten mit eigenem YouTube-Kanal wurde. Der Terror löste bei ihm ein Umdenken aus. In einem Buch hat Schmitz mit seiner Vergangenheit abgerechnet. Heute besucht er Schulen und warnt vor dem Salafismus.

Das Buch des Aussteigers Dominic Schmitz.
Das Buch des Aussteigers Dominic Schmitz.

Solche Beispiele gilt es zu fördern und andere zur Nachahmung zu ermutigen. Als mögliches Mittel gegen «Instant-Terroristen» schlägt die deutsche Autorin Tanja Dückers in der NZZ vor, «erfolgreich integrierte ehemalige Flüchtlinge als Bindeglied zwischen den Kulturen einzusetzen». Ein Allheilmittel ist das nicht, dennoch ist es der richtige Weg, denn Anreize wirken allemal besser als Verbote oder eine falsch verstandene Toleranz gegenüber konservativen Strömungen im Islam.

Unsere westlichen Werte üben trotz aller Rückschläge der letzten Zeit eine grosse Anziehungskraft auf Menschen aus anderen Kulturen aus. Es wäre verheerend, wenn wir sie verraten und jenen rechtspopulistischen Kräften Auftrieb verleihen würden, denen die mühsam erkämpften Freiheitsrechte selbst zuwider sind.

Deshalb müssen wir lernen, mit den Horrormeldungen auf unseren Displays zu leben. Dann werden wir auf lange Sicht die Oberhand behalten.

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82 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Bobo B.
22.07.2016 12:04registriert März 2015
"Unsere westlichen Werte üben trotz aller Rückschläge der letzten Zeit eine grosse Anziehungskraft auf Menschen aus anderen Kulturen aus." Nein lieber Pesche. Es sind mehrheitlich nicht die Werte, sondern die Früchte die aus den Werten entstanden sind, auf die alle scharf sind.
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Maett
22.07.2016 13:39registriert Januar 2016
"Uns geht es besser, als unseren Vorfahren." Wirklich? War Europa zur Zeit der EG, der unabhängigen Nationalstaaten und der tiefen Migrationsquote nicht freier, friedlicher und prosperierender?

Ich kann nichts Gutes daran erkennen, Konflikte anderer Kulturen in unser Land zu holen, um dann hilflos dazusitzen und eben solche Artikel wie diesen zu fabrizieren oder zu lesen.

Das Mantra der angeblichen Anziehungskraft der westlichen Werte wird uns eben diese Werte kosten; da die Anziehungskraft primär vom Wohlstand ausgeht.

Leider erfolgt diese Erkenntnis extrem reaktionär. Das macht traurig.
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Der Zahnarzt
22.07.2016 11:57registriert März 2016
In einem Punkt bin ich nicht ganz überzeugt: Sie schreiben, die westlichen Werte besitzen grosse Anziehungskraft für Menschen aus anderen Kulturen. - Ich glaube,es ist der westliche Wohlstand / Luxus / Überfluss, der ebenfalls grosse Anziehungskraft besitzt, vielleicht sogar die grössere. - M. E. ist auch an der Zeit, dass wir im Westen eine Diskussion darüber führen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Freiheitsrechten etc. sprechen und welche Werte wir als verbindlich für alle betrachten wollen.
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