Tod Nr. 1: Am 29. Mai erwischt es Alfonso. Alfonso ist einer der 56 Passagiere in der EgyptAir-Maschine 804, die um halb 3 morgens vom Radar verschwindet und anschliessend vermutlich über dem östlichen Mittelmeer abstürzt.
RIP My brother, I'll miss you Alfonso. pic.twitter.com/pShsNbRGYE
— Perro al-Baghdadi (@sidaxmejicano) 19. Mai 2016
Tod Nr. 2: Am 12. Juni stirbt Alfonso wieder. Diesmal ist er unter den Partygästen im Pulse-Nachtclub in Orlando, die von Omar Mateen hingerichtet werden.
Tod Nr. 3: Der jüngste Tod Alfonsos datiert vom 28. Juni. An diesem Tag ereignet sich der Anschlag auf den Atatürk-Flughafen in Istanbul. Wieder ist Alfonso zur falschen Zeit am falschen Ort.
#Help my brother Alfonso was on #Atatürk Airport and we dont know anything about him, help please #Turkey #ISIS pic.twitter.com/zYug6RyTVm
— Batiato. (@marty_batiato) 28. Juni 2016
Eine offizielle Bestätigung für das Ableben des jungen Mannes gibt es nicht – weil Alfonso in Wahrheit auch nie gestorben ist.
Ob die Geschichte stimmt oder nicht, wird man wohl nie herausfinden, aber ungefähr so könnte es sich zugetragen haben: Alfonso, der mit echtem Namen anders heisst, ist ein junger Mann, er lebt irgendwo in Mexiko, hat einen Job, Freunde, und er macht in seiner Freizeit Dinge, die junge Männer mit zu viel Zeit und einer guten Internetverbindung machen: Sie trollen andere Leute im Netz. Harmloses Zeug, aber keine Teenager-Streiche, wie ein ehemaliger Kollege des tot-lebendigen Alfonsos bestätigt. Wieso? «Weil es Spass macht.»
thanks, im cryiing, i dont know how to act in cases like this, pl
— Batiato. (@marty_batiato) 28. Juni 2016
ease lord jesus forgive us! https://t.co/bMfX9vgrW5
Dann begann Alfonso, seine Freunde um Geld zu bitten. Kleine Summen, grössere Summen, für einen Flug, für neue Pneus, für sein Motorrad. Es sei kein Problem, er habe genug Geld. Er werde es zurückzahlen. «Er sprach immer wieder von Geld, Autos, Reisen», erzählt ein Marcos, ehemaliger Kollege, auf Twitter. Aber Alfonso zahlte nie zurück. Ein «Fucker» sei er, ein «Schwindler», ein «mieser Abzocker». Ein Prahler, ein Hochstapler.
Irgendwann Anfang 2016 hatte einer von Alfonsos Freunden genug von den Ausflüchten. Alfonso hatte von ihm angeblich 25'000 Pesos geliehen – umgerechnet 1200 Dollar. Peter, so der Name des Freundes, reichte eine Zivilklage und eine Strafanzeige ein. Die ultimative Drohung. Alfonso weigerte sich noch immer, zu zahlen.
MEXICAN JOURNALIST NAMED ALFONSO WAS THE RESPONSIBLE FOR THE FIRE IN #Medina, INTERIOR MINISTRY OF SAUDI ARABIA SAYS pic.twitter.com/YMRTtGbHjs
— Sheriff de Chocolate (@SoyPeluditx) 4. Juli 2016
Was nachher kam, das hätte Alfonso eigentlich vorausahnen können als leidenschaftlicher Troller. Seine ehemaligen Freunde, ungefähr 15 an der Zahl, begannen, Fotos von Alfonso mit willkürlichen Ereignissen in Verbindung zu setzen – Ereignisse, die Alfonso entweder ins schlechte Licht rückten, oder ihn ins digitale Grab beförderten.
Wer machte sich im Netz lustig über eine Terrordrohung in einem Fussballstadion? Alfonso. Wie lautet die Identität des Brooklyn-Attentäters? Alfonso. Wer war am Terroranschlag in Medina beteiligt? Alfonso. In die Kamera blickt ein aufgeweckter junger Mann, mal mit grauem Lacoste-Shirt, mal im Jacket, die Haare immer sorgfältig zur Seite gekämmt.
Es ist ein verzerrter Ghostbusters-Ruf: «Who you gonna blame?» – «Alfonso!»
Dass sie mit ihrer Strategie Erfolg haben und das Geld dereinst zurückerhalten werden, daran glaubt die Troll-Truppe nicht. Auch ins Justiz-System setzen sie kein Vertrauen, obwohl die Klage noch hängig ist. «It's Mexico, man. Shit country». Was sie wollen, ist eine monströse Variante des digitalen Prangers. Was sie wollen, ist, das dumme Gesicht des «Fuckers» im Zusammenhang mit möglichst vielen abstrusen Vorfällen zu sehen. Und natürlich die Genugtuung, wenn ein weiteres Online-Portal auf den Hoax hereinfällt. «Aiaiaiaiaia».
Wieso gehen BBC, «New York Times» und das gesamte soziale Netzwerk einer Gruppe von gelangweilten Digital Natives auf den Leim? Es ist ganz einfach, erklärt Marcos. «Du nimmst sein Bild, fügst ein paar Hashtags hinzu und betest für deinen vermissten Freund oder Bruder.» Manchmal schreiben sie auf Twitter auch direkt Journalisten von lokalen Zeitungen an. «Und dann beissen sie an, dann hängen sie am Haken. Das ist die Formel». So einfach ist es. Smiley mit Sonnenbrille. Ein bisschen digitale Selbstjustiz und ganz viel Spass daran, die Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen.
Skrupel? «Nein, keine Skrupel». In Mexiko sei das, was sie machen, nicht illegal. Ausserdem habe er es ja verdient. Ein paar Tausend Franken Schulden gegen die Zurschaustellung im Netz. Das klingt für die Troll-Truppe aus Mexiko Stadt nach einem fairen Deal.
Ob Alfonso wirklich existiert und, falls ja, ob sich die Geschichte so abgespielt hat oder nicht, ist unklar. Ein Gerichtsdokument soll bezeugen, dass Alfonso einem Mitglied der Troll-Truppe tatsächlich Geld schuldet. Ob das Dokument echt ist oder nicht, kann nicht verifiziert werden.
BBC hat nach dem Absturz der EgypAir-Maschine eine Zusammenstellung der Fake-Todesmeldungen im Netz publiziert – darunter auch diejenige von Alfonso. Der britische Sender schreibt, dass Photos von Alfonso im Dezember 2015 das erste Mal im Netz die Runde gemacht haben.
Auch die «New York Times» reagierte schliesslich auf den Hoax. Die bekannteste Zeitung der Welt hatte nach dem Anschlag auf einen Schwulenclub in Orlando ein Bild Alfonsos in einer Opfergalerie publiziert. Mittlerweile ist an der entsprechenden Stelle ein Korrigendum zu lesen:
«Das Bild des Mannes bei Minute 2:24 wurde entfernt. Nach der Publikation des Videos kamen Informationen ans Licht, die in Frage stellten, ob der Mann tatsächlich unter den Opfern ist.»
Und Alfonso? Der französische Nachrichtensender France24 hat mit ihm gesprochen – oder zumindest mit jemandem, der sich als Alfonso ausgibt.
«Fake», schreibt Marcos, France24 habe nie mit Alfonso gesprochen. «Die ‹fucking Frenchs› sind auf einen Fake-Twitter-Account hereingefallen». Er wisse aber nicht, wer dahinter stehe.
Auf der in der Anklageschrift festgehaltenen Telefonnummer Alfonsos meldet sich niemand. Alfonsos Freundin, die ebenfalls in den Rechtsstreit verwickelt sein soll, weil gewisse Beträge über ihre Kreditkarte geflossen seien, scheint ebenfalls untergetaucht.
Vielleicht ist die ganze Geschichte ein Hoax-Hoax, ein Meta-Hoax. Vielleicht existieren weder Alfonso noch die Troll-Truppe oder vielleicht sind ihre Absichten ganz anders gelagert. Die Myriaden Schlupflöcher im Netz machen es einem einfach, seine Spuren zu verwischen und seine Absichten zu verschleiern. Das ist der aktive Part. Für den passiven Part, für Alfonso, so es ihn denn gibt, und für all die anderen Alfonsos, deren Bilder, Videos und persönliche Daten ungefragt und ungewollt im Netz publiziert werden, besteht diese Möglichkeit nicht. Was einmal ins Web gespeist wird, das bleibt.
(wst)