Die Jeans sitzen gut. Und sie haben genau die Farbe, die ich schon lange suchte. Ich schiebe den Vorhang zur Seite, trete aus der Umziehkabine und schaue mich im grossen Spiegel des Kleiderladens an. Ich werde mir die Hose kaufen, denke ich.
Plötzlich drängen rund zehn Personen in den Raum, sichtbar aufgewühlt und wild umherblickend. Aus weiter Entfernung hört man laute Stimmen. Keine dreissig Sekunden später bittet uns das Personal, den Laden umgehend über den Notausgang zu verlassen.
Ich trage immer noch die neuen Jeans. Soll ich die einfach anbehalten und losrennen? Bin ich dann ein Dieb? Ich rede mir selbst ein, Ruhe zu bewahren, und ziehe, eilig zwar, meine eigenen Hosen wieder an.
Ich verlasse die Umziehkabinen als Letzter und reihe mich in den Menschenstrom ein, der Richtung Notausgang drängt. «Everybody get out», rufen die Angestellten. Es herrscht eine bedrückende Stimmung im engen Treppenhaus. Kein Mensch weiss, was los ist. Einige wimmern vor sich hin. Mein Herz klopft.
Als wir – in einer ziemlich schmalen Nebenstrasse – endlich an der freien Luft sind, weicht die Anspannung einer eigenartigen Gelassenheit. Einer trügerischen zudem, wie sich gleich herausstellen wird.
Wildfremde Menschen fragen mich, ob ich den Grund unserer Evakuierung kenne. Ich wiederum erkundige mich bei einem Mann, der sich breitschultrig vor sein Geschäft gestellt hat.
Da höre ich es zum ersten Mal: Es habe Schüsse in der nahegelegenen U-Bahn-Station Oxford Circus gegeben, mehr wisse er nicht.
Mehr kann er auch gar nicht sagen, denn in dieser Sekunde kommt, wie eine Welle, eine Menschenmenge um die Ecke. Schreiend und in Panik. Die zumeist jungen Leute rennen um ihr Leben, so scheint es. Es bleibt gar nicht viel anderes übrig, als es ihnen gleichzutun, sonst würde man von der Masse umgestossen (was mehrfach geschah, siehe Infobox).
Was jetzt passiert, nennt man wohl Überlebensinstinkt. Die Sinne sind geschärft, ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich meine Schuhe in der Eile nicht gebunden hatte. Was geschieht, wenn ich stolpere? Neben mir schreien weiterhin Leute, schrill und markdurchdringend. In diesem Moment denken wohl alle, dass jetzt dann gleich jemand von hinten das Feuer auf uns eröffnet.
Wir rennen vielleicht zwei Minuten, ohne jegliche Orientierung. Plötzlich drängen die Menschen in den Eingang eines Warenhauses. Die meisten gehen nach unten. Ich will der Masse entkommen, eile mit ein paar anderen die Treppe hinauf und finde mich zwischen Frauen-Unterwäsche wieder.
Soll ich mich hinter einem Gestell verstecken? Noch bevor ich eins suchen kann, kommt ein Sicherheitsangestellter und weist uns an, ebenfalls ins Untergeschoss zu gehen.
Dort befindet sich der Supermarkt. Zwischen Bierdosen und Chips drängen sich Hunderte Leute. Viele halten die Hände vors Gesicht, sie zittern und weinen. Ich versuche mich zu beherrschen, meinen Puls kann ich aber nicht kontrollieren. Mir ist heiss.
In so einem Moment – ich hatte das zum Glück zuvor noch nie erlebt – macht man sich Gedanken, die man sonst nie hätte. Ich überlege mir, ob der Platz unter dem Brotregal ausreicht, um sich zu verstecken. Ich stelle mich in die Nähe des Notausgangs, um allenfalls flüchten zu können – im Wissen, dass ein Täter vielleicht gerade dort hineinkommen könnte. Und natürlich sucht man irgendeine Form von Halt.
Netzabdeckung gibts im Untergeschoss nicht. Aber ich kann mich glücklicherweise ins WLAN einloggen und meine Freundin über Whatsapp anrufen. Ich getraue es mich jetzt, nachdem sich alles als Fehlalarm herausgestellt hat, fast nicht zu sagen: Aber man denkt in so einem Moment tatsächlich daran, dass man sich vielleicht zum letzten Mal gehört hat.
Als ich abhänge, vibriert mein Handy mehrfach: Es sind Push-Nachrichten von Schweizer Newsportalen, sie berichten von «Schüssen in der Londoner U-Bahn». Und wir sind hier in einem unterirdischen Supermarkt gefangen. Vor dem inneren Auge spielt sich ein Film der ungemütlicheren Sorte ab.
Die Minuten vergehen, abgesehen von vereinzeltem Winseln und den spontanen Gesprächen, die sich überall ergeben, bleibt es ruhig. Auf Twitter meldet die Londoner Polizei, dass man keine Hinweise auf Schüsse gefunden habe, die Gegend aber gemieden werden solle. Der Puls legt sich langsam.
Nach einer guten Stunde werden wir vom Ladenpersonal, das während der ganzen Zeit versucht hat, die Gemüter zu beruhigen, nach draussen geführt. Wir sind definitiv «gerettet» – vor etwas, was gar nie stattgefunden hat.
Gut möglich, dass sich die Szenerie in der Schweiz anders – oder gar nicht – ereignet hätte. Im Gegensatz zu den Londonern, die alleine in diesem Jahr schon deren vier erleben mussten, sitzt uns in der Regel keine persönliche Erinnerung an Terroranschläge in den Knochen.
Aufgrund der Informations- und Bilderflut, nicht zuletzt über soziale Medien, dürften mittlerweile aber die meisten Menschen dazu tendieren, mit zu grosser Angst auf (vermeintliche) Bedrohungen zu reagieren.
Es ist genau das, was Terroristen wollen. Nirgends soll man sich mehr sicher fühlen.
Bis zum Freitag verwies ich bei Diskussionen zum Thema stets auf die Fakten. Diese besagen, dass es in Westeuropa in den 1970er- und 1980er-Jahren deutlich mehr Terrortote gab als in jüngster Vergangenheit. Gemäss Statistik ist es wahrscheinlicher, beim Essen zu ersticken, als bei einem Terroranschlag zu sterben.
Sorgt man sich präventiv, tut man weder sich noch seinem Umfeld einen Gefallen, so meine Devise. Das ist sie noch immer. Und doch merke ich, dass der Terror für mich den abstrakten Charakter verloren hat.
Es hat eine zynische Note, dass ich dies anhand eines eigentlichen Nicht-Ereignisses feststellen muss. Und ich schäme mich fast dafür, dass ich am gleichen Tag vor inexistenten Angreifern geflüchtet bin, an dem auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel über 300 Personen niedergemetzelt wurden. Was fabulieren wir hier über die psychologischen Auswirkungen von glücklicherweise immer noch seltenen Anschlägen, während andernorts jeden Tag Gefahr herrscht?
Was bleibt, ist ein ungutes Gefühl. Eine Mischung aus «nochmals Glück gehabt» und «wie traurig, dass sich der Terror in unseren Köpfen festgesetzt hat». Ich werde mich auch künftig in der Öffentlichkeit nicht anders verhalten – aber es fällt mir schwerer als vor jenen bangen Minuten in Londons City. (aargauerzeitung.ch)