11. September 2002: Ein Jahr ist seit den Terroranschlägen in den USA vergangen. In London wollen ein paar junge Männer den Jahrestag feiern. Keine Gedenkfeier soll es sein, nein, die Tat der 9/11-Attentäter wollen sie bejubeln. So, wie sie das nach dem Einsturz der Zwillingstürme ein Jahr zuvor auch schon getan haben.
Hakan Cerrah ist einer der jungen Männer. An diesem Tag fühlt er sich komisch. Schon als einer der Freunde ein Poster mit der Aufschrift «The magnificent 19» ausrollt. «Die glorreichen 19» – das Poster erinnert an die 19 Terroristen, welche die Flugzeuge in das World Trade Center und ins Pentagon flogen. Hakan ist angewidert. Trotzdem geht er mit seinen extremistischen Freunden mit. Wie er so oft mitgegangen ist: Um Koranverse zu rezitieren, zu den Hasspredigten. Zu den Treffen der Islamisten-Organisation al-Muhajiroun.
Eine Frau kommt auf die Islamisten zu. Mit tränenerstickter Stimme sagt sie: «Mein Bruder starb in diesen Türmen.» Hakan schnürt es den Hals zu. Zum ersten Mal überhaupt spürt er so etwas wie Mitleid mit den Opfern von 9/11. Bei seinen Freunden regt sich nichts. Die Worte der Frau prallen an ihnen ab. Hakan denkt sich: «Etwas stimmt nicht mit uns.» Und so wird der 11. September 2002 zum Tag, an dem Hakans langer Weg aus der Radikalität beginnt.
Davon erzählt der 39-jährige Brite in einer Abstellkammer des Zürcher Restaurants «Karl der Grosse». Hakan Cerrah heisst nun Adam Deen. Gleich wird er mit zwei Forschern und einem Moderator vor Publikum über die Frage streiten: Warum schliessen sich so viele Westler Terrorgruppen an? Als einer, der wissen muss, wie junge Menschen in die Fänge der Terroristen geraten können, arbeitet er heute für die britische Quilliam Foundation.
Dunkel gekleidet, die Krawatte unter dem grauen V-Ausschnitt-Wollpullover – vor uns sitzt ein britischer Gentleman. Ein Bartschatten ziert das Gesicht. «In den 1990ern trugen wir keine langen Bärte», sagt Deen. Damals erkannte man Islamisten noch nicht aus der Ferne. Es war vor der Zeit der langen Bärte und knöchelfreien luftigen Hosen, ehe Islamismus zur Popkultur wurde.
Den neuen Namen gab sich Deen, nachdem er den Ausstieg aus den radikalen Kreisen geschafft hatte. Sicherheitsüberlegungen spielten zwar eine Rolle, der englisch klingende Name sei aber vor allem praktisch. Deen macht kein Geheimnis um seine Herkunft. Er benötigt weder Polizeischutz noch plagten ihn grössere Sicherheitsbedenken, als er gegen die Extremisten zu arbeiten begann. Trotzdem macht sich Deen Gedanken zu den Risiken, die er eingeht – «I have to watch my back». Zu einem Angriff sei es aber nur ein einziges Mal gekommen. In London kreuzte er zufälligerweise den Weg desjenigen, der ihn in den 1990ern für die Ideen der Islamisten gewann und für al-Muhaijroun rekrutierte. Mehr als eine Handgreiflichkeit war es laut Deen aber letztlich nicht.
Dabei ist al-Muhaijroun einschlägig bekannt und in Grossbritannien verboten. Einige Mitglieder sitzen in Haft, andere radikalisierten sich weiter. Drei Jahre ist es her, seit zwei Briten am helllichten Tag in London den britischen Soldaten Lee Rigby anfuhren und auf offener Strasse ermordeten. Dazu zitierten sie den Koran, und nach der Tat warteten sie seelenruhig auf die Polizei. Blut klebte an ihren Händen, als sie sich sogar von Passanten filmen liessen. Die Mörder hatten Verbindungen zu al-Muhaijroun.
Die Tat trug die Handschrift des «IS», der Monat für Monat Hunderte von Videos in den sozialen Medien verbreitet. Sie sind heute der wichtigste Tummelplatz der Islamisten, wie Deen sagt.«Von sozialen Medien, überhaupt dem Internet, waren wir in Grossbritannien zu Beginn der 1990er-Jahre noch weit entfernt», sagt Deen. In Kontakt mit den Islamisten geriet der junge Hakan an der Westminster Universität. Es war dieselbe Uni, an der später ein anderer junger Mann bekehrt wurde: «Jihadi John», der Mann mit dem britischen Akzent, wurde bekannt als Schlächter des «IS».
«Ich war jung und interessierte mich für meine Religion, den Islam», sagt Adam heute. Doch niemand konnte seine Fragen beantworten. Seine türkischen Eltern führten ein säkulares Leben, der Glaube war nicht zentral. «In der Moschee aber gingen nur alte Männer ein und aus, die eine fremde Sprache sprachen.» Bei al-Muhaijroun aber sprach man in einfachen Worten. Die Botschaften waren simpel: «Immer wieder ging es um die unterentwickelte islamische Welt. Die Antwort war diese: Der Westen war an allem schuld.» Klare Antworten, klare Sache, kein kritisches Hinterfragen – so schnell wurde Hakan selbst zum Radikalen.
Der Ausstieg sollte viel länger dauern. Hakan hatte Glück, wie Adam heute sagt: «Ich freundete mich mit einem ehemaligen Mitglied an, das selbst den Ausstieg geschafft hatte.» Der Mann unterrichtete Philosophie; Hakan lehrte er, dass es verschiedene Denkweisen und Perspektiven gibt, den Islam zu deuten. Hakan lernte, kritisch zu hinterfragen, und er sah ein: «Die Islamisten behaupten, alleine den wahren Islam zu kennen. Das ist falsch.»
Aus Hakan wurde Adam. Seine Erfahrungen wollte er mit Jugendlichen und der Gesellschaft teilen. «Es kann jeden treffen», warnt er. Und er fordert: «Wir, das heisst die Muslime, müssen den Islamismus, der den Nährboden für den Dschihadismus bildet, mit einer starken Gegenerzählung bekämpfen.»
Für Adam Deen ist klar: Hätte ihm nicht das kritische Denken über den Islam die Augen geöffnet, er hätte den Ausstieg vielleicht nicht geschafft. Und Hakan wäre nun vielleicht auch in Syrien. Oder längst tot – wie Jihadi John.