Seit wenigen Stunden ist für ganz Baltimore eine Ausgangssperre bis in den frühen Mittwochmorgen in Kraft. Wer nicht auf dem Weg von oder zur Arbeit ist, wer nicht wegen eines Notfalls unterwegs ist, der darf seine Wohnung nicht verlassen. Eine 620'000-Einwohner-Metropole im Ausnahmezustand. Rund tausend Polizisten und 2000 Soldaten der Nationalgarde müssen das durchsetzen.
Seit Tagen halten die Proteste gegen Polizeigewalt an, die sich am Tod des 25-jährigen Schwarzen Freddie Gray entzündet hatten. Montagnacht übernahmen Randalierer die Regie, am Dienstag zeigten sich die Bewohner schockiert vom Werk der Zerstörung – und die Behörden rüsteten auf.
Die vergangenen Stunden waren geprägt von einem Machtkampf zwischen friedlich Protestierenden und Gewaltbereiten, einer schwer gepanzerten Polizei und ungewöhnlichen Protestformen an der Kreuzung von North Street und Pennsylvania Avenue, dem Epizentrum der Krawalle.
17.30 Uhr: «No justice, no peace!» rufen die Demonstranten. Es sind zu diesem Zeitpunkt vornehmlich junge Leute unterwegs und nicht allein Schwarze. Ein schlaksiger 18-Jähriger ergreift das Megafon, skandiert «Freddie, Freddie, Freddie». Sein Name: Carron Morgan. Er ist der Cousin von Freddie Gray.
17.45 Uhr: Carron Morgan im Interview: «Meine Familie will einen friedlichen Protest, keine Gewalt.» Die Randale vom Vortag, sagt er, haben mit einem Aufruf von «ein paar Kids in den sozialen Netzwerken» begonnen, «und dann ist das eskaliert». Morgan spielt auf einen digitalen Flyer an, der unter Schülern zirkulierte und zu einer «Purge» («Säuberung») aufforderte – in Anlehnung an den Horrorfilm «The Purge». Der handelt von einem Tag, an dem die Menschen zwölf Stunden lang keine Gesetze achten müssen: Brandstiftung, Plünderung, Mord, alles erlaubt. «Mit Freddie hatten die Randale nichts zu tun», sagt Morgan.
18.10 Uhr: Die Strassenecke North Street und Carey Street, nur einen Block entfernt von jener CVS-Drogerie, die in der Nacht zuvor ausbrannte. Polizisten haben die Strasse gesperrt, zwei Panzerfahrzeuge in ihren Reihen. Rund 150 Demonstranten kommen im Laufschritt auf sie zu, die Hände erhoben, sie rufen: «All night, all day, we will fight for Freddie Gray!» Es ist die erste grosse Konfrontation des Tages. Die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, brüllen die Demonstranten in Richtung der Polizisten. Die bleiben reglos. «Sie haben die Lehren aus Ferguson gezogen», sagt eine Demonstrantin anerkennend.
18.30 Uhr: Auf der North Street direkt vor der Polizeisperre sind die Unterschiede zwischen Protestierern und Randalierern greifbar. Auf der einen Strassenseite singt eine grössere Gruppe Gospelsongs; auf der anderen steht Keith und sagt, das Ziel von Protesten sei es, gehört zu werden. Wer Randale mache, der sei nicht gehört worden, der habe keine Antworten bekommen. Das Fazit des 42-Jährigen: «Wir haben keine Antworten bekommen.»
18.45 Uhr: Einer aus der Gruppe um Keith greift sich einen Mülleimer, läuft damit auf die Polizisten zu. Eine Frau stoppt ihn. Army-Veteran Jerry bringt den Mülleimer zurück. Er ist extra aus Washington angereist, um Randalierer zu stoppen und Protestierende zu schützen: «Es braucht nur einen, um es für alle zu vermasseln», warnt er.
19.30 Uhr: Vor der ausgebrannten CVS-Drogerie zieht eine Gruppe mit Trommeln auf, Cheerleaderinnen tanzen im Rhythmus. Vom Rande aus beobachtet Jeff Neighbor die Szene. Neighbor ist aus North Carolina angereist, ein Priester mit blauem Hemd, auf dem steht: «Rapid Response Chaplains», eine Art schnelle Christeneingreiftruppe. Gott und er versuchten, die Leute von Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit zu überzeugen, sagt er.
20.00 Uhr: Vor der Polizeikette bilden Protestierende ebenfalls eine Menschenkette. Sie stehen mit dem Rücken zu den Polizisten, wollen Randalierer auf diese Weise von Provokationen abhalten.
21.00 Uhr: Die Polizei erinnert daran, dass in einer Stunde die Ausgangssperre in Kraft tritt. Aktivisten aus der Protestbewegung helfen mit, rufen Widerständigen «Geht nach Hause, geht nach Hause» zu.
21.15 Uhr: «Nimm die Kamera runter!», ruft ein Mädchen. Dann zieht sie sich eine Balaklava über den Kopf. Nicht jeder hier will offenbar nach Hause gehen.
22.08 Uhr: Die Ausgangssperre ist in Kraft, doch einige Demonstranten wollen nicht gehen. «Es ist Zeit, nach Hause zu gehen», ruft ein Polizist per Megafon. Und dann schiebt er einen Satz hinterher, den die Polizei in Amerika selten nutzt: «Ich fordere Sie nicht auf, ich bitte Sie inständig.»
22.10 Uhr: Ein paar Flaschen fliegen in Richtung Polizei, die meisten aus Plastik. Dann ein paar mehr. Drei Polizeihubschrauber kreisen über der Kreuzung.
22.15 Uhr: Eine Gruppe Vermummter sammelt sich und durchwühlt Müllsäcke auf der Suche nach weiteren Wurfgeschossen. Die Polizei antwortet mit Tränengas. Dichte Schwaden hüllen die Kreuzung ein. Die Polizisten schlagen mit ihren Schlagstöcken auf ihre Schilder. «Es ist Zeit für die Schlacht», ruft ein Jugendlicher.
22.20 Uhr: Ein paar Teenager werfen Rauchbomben. Die Polizei schiesst mit Pfefferspraygeschossen.
22.30 Uhr: Die ersten Räumpanzer der Polizei rücken an.
23:50 Uhr: «Die Ausgangssperre funktioniert», verkündet Baltimores Polizeipräsident Anthony Batts.