Plötzlich ist der US-Wahlkampf wieder spannend. Clinton gerät in die Defensive, Trump verspürt Aufwind. Wie stehen die Chancen der Kandidaten für den Einzug ins Oval Office? Um diese fünf Fragen geht es jetzt.
Marc Pitzke, New York
So schnell geht das. Vor nicht mal zwei Wochen verliess Donald Trump das Spielermekka Las Vegas als Verlierer. Nachdem er auch die letzte TV-Debatte gegen Hillary Clinton in den Sand gesetzt hatte, schien sein Schicksal besiegelt.
Am Sonntag kehrte Trump triumphal an den «Strip» zurück, die Casinomeile von Las Vegas. Im Ballsaal des Luxushotels Venetian peitschte er die Menge zu frenetischen «Lock her up!»-Rufen auf: Clinton habe sich «kriminelle Handlungen» zu Schulden kommen lassen – «absichtlich, vorsätzlich, zielbewusst».
Trump in Las Vegas. Bild: Evan Vucci/AP/KEYSTONE
Die jüngsten Enthüllungen um Clintons E-Mail-Probleme haben Trump Aufwind gegeben. Die Nachricht, dass das FBI bis zu 650'000 weitere E-Mails entdeckt habe, hat die Affäre wieder hochgespült, den Fokus auf Clinton verschoben und den Wahlkampf noch mal völlig durcheinandergewirbelt.
So etwas heisst hier «October Surprise», Oktober-Überraschung: eine dramatische Wende kurz vor der Wahl. Der Brandbrief von FBI-Chef James Comey fällt in diese Tradition – ein Albtraum für Clinton, die sich schon auf der Zielgeraden wähnte.
FBI-Direktor James Comey Bild: JONATHAN ERNST/REUTERS
Und so ziehen die Kandidaten – Clinton erschöpft, Trump ermutigt – in diese letzte Woche vor der Wahl, die noch viel ungewisser, unvorhersehbarer ist als sonst.
Bei diesen fünf Punkten könnte es nochmals richtig spannend werden:
Wie geht es weiter in der Affäre? Zentrale Fragen bleiben unbeantwortet. Was wusste Huma Abedin, Clintons engste Vertraute? Der Laptop, auf dem die neu entdeckten Mails aufgetaucht sind, gehörte ihrem Mann, dem skandalverfolgten Ex-Kongressabgeordneten Anthony Weiner, von dem sie inzwischen getrennt lebt. Abedin soll den Computer mitgenutzt haben. Sind die E-Mails privat? Dienstlich? Geheime Staatssache? Oder völlig unbedeutend? Erst am Sonntagabend bekam das US-Justizministerium die gerichtliche Genehmigung, das Material zu sichten – was aber nicht heisst, dass es alsbald publik wird. Gerüchten zufolge soll Weiner überdies mit den Behörden zusammenarbeiten. Hier schlummern sicher noch Tretminen.
Es ist historisch beispiellos, dass sich das FBI so kurz vor einer Wahl einschaltet – mit solch vagen Informationen. Comey gerät unter Druck, womöglich verstiess er sogar gegen das Gesetz. Fast 100 Ex-Staatsanwälte und Top-Juristen, darunter der frühere Justizminister Eric Holder und etliche Republikaner, nannten das Verhalten Comeys in einem offenen Brief «perplex» und «besorgniserregend». Schon gibt es Rufe nach einem Rücktritt des FBI-Chefs. Auch die Rolle des FBI selbst gerät ins Fadenkreuz – so wussten Mitarbeiter schon seit Wochen von den neuen E-Mails.
Beide Seiten nutzen diese Woche, um durch die entscheidenden Swing States zu tingeln. Trumps Ehefrau Melania Trump spricht am Donnerstag in einem Vorort von Philadelphia – ihr erster Auftritt seit dem Parteitag, wo sie eine Rede gehalten hatte, die teils von Michelle Obama abgekupfert war. Präsident Obama wird auch noch mal für Clinton trommeln, in Ohio, North Carolina und Florida. Ausserdem auf Tournee: Joe Biden, Bill Clinton, Senatorin Elizabeth Warren und Vorwahlrivale Bernie Sanders.
Trump mit Ehefrau Melania. Bild: CARLO ALLEGRI/REUTERS
Selten waren die Umfragen so launisch. Letzte Woche lag Clinton in Florida noch knapp vor Trump, ist seither aber schon wieder abgerutscht. Landesweit bleibt es Kopf an Kopf, mit leichtem Vorteil für Clinton. Dass sich Trump so gut hält, begründet Wahlexperte Sam Wang mit der Polarisierung Amerikas. «Wenn Sie sich wundern, ob noch jemand übrig ist, der sich überreden lässt», schreibt er in der «New York Times», «dann ist die Antwort wahrscheinlich nein». Hinzu kommt das «early voting»: In 35 Bundesstaaten und Washington wird schon gewählt. Insgesamt wurden bereits fast 20 Millionen Stimmen abgegeben – die Hälfte in Swing States.
Auch Trump ist nicht sicher vor einem neuen Last-Minute-Skandal – oder dem Talent, sich selbst zu sabotieren. Doch die jüngsten Kapriolen um Clinton haben seine Anhänger noch fanatischer und auch handgreiflicher gemacht; einen Wahlsieg der Demokratin dürften sie nun erst recht nicht akzeptieren. Anderswo ist zu hören, dass Trumps engster Zirkel längst begonnen hat, den Blick über eine Wahlniederlage hinaus zu richten: «Trumps Berater arbeiten hart, um ihre eigene Zukunft zu planen, während sie versuchen, das Achterbahn-Finale dieses Wahlkampfes zu überstehen», schreibt Gabriel Sherman im «New York Magazine».
«Mögest du in interessanten Zeiten leben», so lautet angeblich eine chinesische Verwünschung. Unsere Zeiten sind «interessant» wie lange nicht mehr – jedenfalls, wenn wir an den aktuellen Stand der Weltpolitik denken. Noch nie war die Gefahr so gross, dass es im schon seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkrieg zu einer direkten militärischen Konfrontation der Grossmächte kommt. US-Präsident Trump tweetete, die Beziehungen der USA zu Russland seien schlechter denn je, den Kalten …