In
Ihrem neuen Buch geht es um die «selbstzufriedene» Klasse. Was
genau wollen Sie uns damit sagen?
Tyler Cowen: Im Titel
steckt eine gewisse Ironie, denn in Amerika gehören fast alle zu dieser selbstzufriedenen Klasse. Nicht nur gut situierte Menschen in
abgesonderten Wohnvierteln, sondern auch Leute mit geringen Einkommen. Die Jungen leben viel länger im Elternhaus. Sie rauchen Marihuana und wollen
kein eigenes Auto oder Haus mehr.
Aus
ökologischer Sicht ist dies eine positive Entwicklung.
Es ist aber
auch ein Zeichen für geringeren Ehrgeiz. Kommt hinzu, dass die
Studenten hohe Schulden anhäufen und immer weniger junge Menschen
ein eigenes Unternehmen gründen. Generell haben die Amerikaner die Fähigkeit verloren, sich eine Zukunft vorzustellen, die
fundamental anders ist als die Gegenwart. Das war in den 1950er und
60er Jahren ganz anders.
Dabei
spricht man von einer fundamental anderen Wirtschaftsordnung,
von der so genannten «Gig Economy», in der jeder sein eigener
Unternehmer und Loyalität zum Arbeitgeber nicht mehr angesagt ist.
Das
ist weitgehend ein Hype. Jeder kennt zwar Uber und benützt diesen
Fahrdienst – zumindest in den USA. Unternehmen wie Uber, Facebook &
Co. sind wichtig, aber sie bilden nicht das Rückgrat der Wirtschaft.
Uber ist ein billiger Taxidienst, aber keine bahnbrechende
Innovation, die alles verändert. Auch die Arbeitsmärkte sind nicht
mehr so durchlässig wie früher.
Der Traum
von eigenen Start-up ist also meist genau das, ein Traum?
Ja,
prozentual gesehen nimmt der Anteil der Start-ups an der
Gesamtwirtschaft leicht ab. Das ist keine Katastrophe, aber auch ganz
anders, als die Leute glauben. Die meisten Arbeitnehmer haben heute
stinknormale Dienstleistungs-Jobs und stecken häufig darin fest.
Sind die
Menschen also träge geworden?
Ich
will keine moralischen Urteile fällen. Ich stelle nur fest, dass die
Menschen – zumindest die Amerikaner – weniger mobil geworden
sind. Es gibt heute mehr Jobs, für die man eine Lizenz oder einen
bestimmten Abschluss benötigt. Die Quartiere in den Städten sind
weniger durchmischt, ebenso die Schulen. Wir haben damit beides:
Weniger Mobilität und mehr Abschottung.
Dafür
haben wir laut Ihrem Buch immer mehr Matching. Wir gleichen alles
untereinander ab: Unsere Vorliebe für bestimmte Musik, Essen, Hobbys
oder Sexpartner. Warum ist gerade dieses Phänomen für die
selbstzufriedene Klasse so typisch?
Matching ist
zentral für die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten
Jahren. Nehmen Sie die Musik: Ob auf dem iPad, YouTube oder Spotify,
stets kann ich genau das hören, was ich will. Und das sehr billig,
oft sogar gratis. Für mich als Konsument ist das wunderbar, es ist
weniger gut für die Musiker. Sie müssen permanent gegen die
Beatles, Beethoven oder Bach antreten. Das ist hart. Led Zeppelin
verkauften in den 70er Jahren nach der Veröffentlichung eines neuen
Albums in kurzer Zeit 400'000 Stück. Damit wurden sie sehr reich.
Das passiert heute kaum mehr, ausser wenigen Superstars wie Taylor
Swift.
Haben wir
die Neugierde verloren?
Es ist
einfacher, neugierig in Bezug auf die Vergangenheit zu sein. Wir
laden die Klassiker der Weltliteratur mehr oder weniger gratis auf
den E-Reader, sind aber kaum noch daran interessiert, neue Grenzen zu
erforschen. Stattdessen wollen wir das Bestehende ein bisschen
hübscher machen. Unsere Welt ist eine Welt der Gentrifizierung. Ein
neues Restaurant im Quartier, eine abnehmende Kriminalität –
darunter verstehen wir heute Fortschritt. Das ist absolut in Ordnung,
aber es ist auch eine rückwärtsgewandte Mentalität.
Das ist
doch verständlich. Dank dem Matching können wir uns sehr viel Ärger
ersparen.
Matching ist
ein sehr positiver Begriff, doch er hat eine Kehrseite: Die
Segregation. Unsere Gesellschaft zerfällt in immer kleinere Teile.
Es wird immer wichtiger, welches Einkommen man hat, wo man wohnt,
welche Schule man besucht hat, welchen Freundeskreis man besitzt. Das
gute alte Amerika, in dem man sich nach oben gearbeitet hat, wird zur
fernen Erinnerung.
Ihre
Kritiker sagen, Sie seien zu pessimistisch. Es sei in den USA nach
wie vor möglich, sich von ganz unten nach oben zu arbeiten.
Ich
sehe mich eher als Optimisten – im Vergleich mit der Realität. Es
stimmt, es gibt in den USA nach wie vor sehr viel Vitalität, vor
allem unter den Einwanderern. Sie gehören nicht zu der
selbstzufriedenen Klasse. Das gilt übrigens generell, auch für die
Schweiz. Einwanderer sind Menschen, die bereit sind, sehr viel
Schmerz zu ertragen, um ein Ziel zu erreichen. Das ist der Grund,
weshalb so viele neue Unternehmen und Innovationen von Zuwanderern
geschaffen werden. Aber wie wir alle wissen, hat sich das politische
Klima stark gegen die Migration gewandt.
Die
Klagen über die vielen asiatischen Studenten an den
Eliteuniversitäten der USA gibt es doch schon seit Jahrzehnten.
Seit der
Wahl von Donald Trump ist die Stimmung gekippt. Es kommen kaum noch
Latinos, dafür kehren viele zurück, etwa nach Mexiko. Wir
werden weniger Zuwanderung und damit weniger Innovation haben. John
F. Kennedys Wahlslogan lautete: «New Frontier». Was sagt Trump?
«Make America great again». Die amerikanische Politik ist
eigenartig rückwärtsgewandt geworden. Wenn Trump über
Investitionen in die Infrastruktur spricht, meint er weder
Hochgeschwindigkeitszüge noch Biotech, sondern Strassen und
Brücken.
Sprechen
wir nochmals über das Zwillingspaar Matching/Segregation. Das
Resultat ist eine oberflächlich gesehen sehr tolerante Gesellschaft,
in der alles erlaubt ist. Doch gleichzeitig geht der Gemeinsinn vor
die Hunde. Jede Gruppe von Gleichgesinnten lebt für sich selbst.
Das
stimmt so nicht. In den USA nehmen beispielsweise die
gemischtrassigen Ehen zu. Die neue Art der Abschottung geschieht über
Ausbildung und Entlöhnung. Die attraktiven Unternehmen stellen heute
Menschen an, die aus allen Teilen der Welt stammen und jeden nur
denkbaren Lebensstil pflegen. Sie finden in diesen Unternehmen alles
– ausser ungelernte Arbeitskräfte. Deshalb gibt es in diesen
Unternehmen zwar ein hohes Mass an Toleranz, aber keine Diversität.
Die Toleranz der neuen kreativen Klasse geht einher mit einer Gleichgültigkeit gegenüber den Ungebildeten?
Ich kenne einige Clinton-Wähler, die keinen einzigen Trump-Wähler persönlich kennen. Umgekehrt trifft das nicht zu, denn alle kommen mit gut ausgebildeten Berufleuten in Kontakt, und die haben Clinton gewählt. Daher auch der Schock nach den Wahlen, wie übrigens auch nach dem Brexit. Die Kreativen konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass man ihnen sagt: Wir haben die Schnauze voll, dass ihr uns vorschreiben wollt, wie wir zu leben haben. Intellektuelle gehen immer noch davon aus, dass auch die Ungebildeten lernen werden, anständig zu leben. Man muss sie bloss noch ein bisschen erziehen. Das ist eine schlimme Verkennung der Tatsachen.
Was
sollen Intellektuelle machen? Auf die politische Korrektheit pfeifen,
Frauen und Schwarze beleidigen, Muslime verteufeln und
nationalistische Parolen grölen?
Es hilft,
wenn man seinen Freundeskreis erweitert und die Welt bereist. Ich
würde auch den Wohnungsmarkt in Städten wie New York und San
Francisco deregulieren, damit es sich mehr Leute leisten könnten,
dort zu wohnen. Ich würde viel mehr Geld in die Bildung stecken. Und
ich würde das Raumfahrtprogramm neu auflegen, um alte utopische
Träume neu zu beleben.
Damit
würden aber Sie eine Menge Steuergelder verbrennen.
Mag sein.
Aber wir brauchen wieder Utopien, selbst wenn sie scheitern, wie
beispielsweise Richard Nixons Krieg gegen den Krebs. Ich persönlich
würde sehr viel in die Bildung und die Infrastruktur investieren.
Wenn ich heute mit dem Zug von Washington nach New York fahre, fühlt
sich das nicht besser an als vor 40 Jahren. Das ist erstaunlich.
Kalifornien
will ein nachhaltiges Energiesystem verwirklichen. Ist das nicht eine
sinnvollere Vision, als auf den Mars zu fliegen?
Versuchen
Sie einmal, Windturbinen in der Nähe von Häusern aufzustellen. Auch
Atomkraft ist «grün», aber heute nicht mehr durchsetzbar. Über
ein erneuerbares Energiesystem wird viel gesprochen, und man fühlt
sich gut dabei. Doch ich möchte die überbordende Bürokratie
abbauen und mich wieder freier fühlen.
Müssen
wir uns mit bald zehn Milliarden Menschen auf der Erde nicht
zwangsläufig einschränken?
Diese
Denkweise mag in einem kleinen und sehr reichen Land wie der Schweiz
funktionieren. Wir Amerikaner ticken anders: Wir brauchen grosse
Träume und unverantwortliche Projekte, mit denen wir auch scheitern
können. Natürlich könnten wir mehr so werden wie die Schweiz oder
Dänemark.
Warum
nicht? Die Dänen gelten als das glücklichste Volk der Welt.
Grosse
Länder wie die USA, China oder Indien haben diese Option nicht. Sie
sind nicht wie die Schweiz, Schweden oder Singapur. Die USA haben
zudem eine spezielle Rolle als globaler Innovator. Wir können sie
nicht abschwächen. Und in gewisser Weise sind wir immer noch der
Weltpolizist.
Präsident
Trump will ein Wirtschaftswachstum von jährlich drei Prozent über
zehn Jahre erreichen. Ist das überhaupt noch möglich?
Es wäre
möglich, aber ich glaube nicht, dass wir dazu in der Lage sind. Wir
müssten sehr viel mehr Immigranten ins Land lassen, und genau
das wollen wir ja nicht. Trump redet bloss. Er hat keine Ahnung, wie
er das Gesundheitswesen umkrempeln will oder wie die Steuerreform
aussehen soll. Er weiss auch nicht, wie er seine Vorschläge
durch den Kongress bringen kann.
In Ihrem
Buch «Average is over» vertreten Sie die These, wonach es in der
Zukunft noch für rund 20 Prozent der Arbeitnehmer einen anständigen
Job geben wird.
Lassen
Sie mich das präzisieren: 15 bis 20 Prozent der Menschen in den USA
werden spektakulär reich sein, aber auch mit den Durchschnittsjobs
wird man über die Runde kommen und gut leben können – zumindest
im globalen Vergleich. Das trifft mehr oder weniger für alle
wohlhabenden Nationen zu.
Wenn
die Menschen genug zum Leben haben und es sich gemütlich einrichten
– was ist daran falsch?
Eine
selbstzufriedene Gesellschaft zerfällt. Das geschieht bereits. Die
Segregation nimmt zu, die Politik wird immer verrückter, und ab
einem gewissen Punkt werden die Schulden unbezahlbar. Die USA können
ihre globalen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen. Trump macht das
bereits, wobei er nur das Symptom ist. Man kann schimpfen und sagen,
Trump sei böse und dumm, doch die strukturellen Probleme hat er
nicht geschaffen.
Aber er
kann grossen Schaden anrichten.
Das tut er
bereits.
Sie
glauben, dass die selbstzufriedene Gesellschaft böse enden wird.
Weshalb?
Amerika war
nie eine friedliche Gesellschaft. In der Vergangenheit hat es viele
Turbulenzen und viel Gewalt gegeben: Ausrottung der Indianer,
Sklaverei, Bürgerkrieg, Grosse Depression, Weltkriege. In den 1980er
und 90er Jahren wurde es plötzlich ruhig und friedlich, der
Kommunismus war besiegt. Die Menschen fingen an zu glauben, dass es
so bleiben wird. Das ist ein Traum. Ich will die Menschen wachrütteln
und ihnen sagen: Was wir nun erleben, ist die Ruhe vor dem Sturm. Wir
werden wieder zu einer Version der Geschichte zurückkehren, die wir
immer schon gekannt haben. Die 80er und 90er Jahren waren eine
seltsame und ungewöhnliche Zeit.
Bewegt
sich die amerikanische Geschichte in Zyklen?
Ja. 9/11 und
die Finanzkrise haben gezeigt, dass wir uns dem Ende eines Zyklus
nähern. Daher ist es ein Irrtum zu glauben, alles werde gut, wenn
wir nur die richtigen Politiker wählen und uns politisch korrekt
verhalten. Der Fortschritt ist niemals permanent.
Können
technischer Fortschritt und die künstliche Intelligenz nicht
verhindern, dass es zu einem Backlash kommt?
Grundsätzlich
schon. Aber wie viele Menschen können heute davon Gebrauch machen?
Wie viele Menschen können mit intelligenten Maschinen
zusammenarbeiten? Die meisten werden sich damit zufrieden geben, in
einem reichen Land zu leben und über die Runden zu kommen.
Wie
stellen Sie sich den Sturm vor, der ausbrechen wird?
Ich denke
nicht an einen neuen Weltkrieg, aber Chaos und Proteste werden
zurückkehren. Amerika wird vermehrt wieder sein wie in der 60er
Jahren oder früher. Die Wahl von Donald Trump ist ja schon eine Art
Revolte.
Sie sagen
aber in Ihrem Buch auch, dass heute selbst der Protest gematcht und
gemanagt wird wie eine Hochzeitsfeier.
Das stimmt.
Wäre Trump in den 60er Jahren gewählt worden, hätte es jedes
Wochenende Demonstrationen für seine Amtsenthebung gegeben. Heute
läuft das sehr viel gemässigter. Auch die Occupy-Bewegung ist
einfach verschwunden, als der Winter kam. Sie ist ein perfektes
Beispiel für Selbstzufriedenheit.
Wo bleibt
also das Chaos?
Das Chaos
wird ausbrechen, wenn wir die Rechnungen nicht mehr bezahlen können.
In einem Land mit einer hohen Sparquote wie der Schweiz geschieht das
nicht, aber die USA sind anders.
Wann
geschieht das?
Nicht so
bald, aber wir sehen erste Anzeichen.
Ist es
denkbar, dass es zu einer Techno-Diktatur im Sinne von Big Brother
kommen wird?
Das wird das
Thema meines nächsten Buches sein. Ich kann mir vorstellen, dass
selbstfahrende Autos der erste Schritt in diese Richtung sein
könnten. Wenn der gesamte Handel im Internet stattfindet, könnte
das zu einer totalen Überwachung führen. Das Internet eignet sich
besser zur Überwachung als für den Widerstand. Das sieht man heute
in China. Die Träume von einer Demokratisierung haben sich nicht
erfüllt. Allerdings glaube ich nicht, dass es je gelingen wird, die
gesamte Welt zu kontrollieren. Das gelang auch früher nicht, etwa in
der Sowjetunion.
Was wird
das wahrscheinlichste Zukunftsszenario sein?
Die
Ungleichheit und die Segregation werden zunehmen. Die Politik wird
permanent dysfunktional werden: Das erwarte ich für die nächsten
zehn Jahre. Die Verlierer werden zunächst nicht die Menschen in den
entwickelten Staaten sein, sondern in Ländern wie Syrien oder Irak.
Im Nahen Osten bricht die Ordnung zusammen, weil die USA nicht mehr
willens und in der Lage sind, sie aufrecht zu erhalten.
Was haben
wir zu erwarten? Die Schweiz ist ebenfalls ein selbstzufriedenes Land
geworden.
Ja,
ihr macht es nur viel besser als die meisten Anderen. Deshalb sehe
ich nicht, dass Euch in absehbarer Zeit schlimme Dinge zustossen
werden.