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Dehnungsstreifen, Kaiserschnitt-Narben und amputierte Brüste boomen auf Social Media: «Durch diese Personen fühlen wir uns endlich repräsentiert»

Diese Bilder zeigen nicht mehr als die Folgen einer Schwangerschaft – trotzdem sind sie viral gegangen.
Diese Bilder zeigen nicht mehr als die Folgen einer Schwangerschaft – trotzdem sind sie viral gegangen.
Bild: julie bhosale
Interview

Dehnungsstreifen, Kaiserschnitt-Narben und amputierte Brüste boomen auf Social Media: «Durch diese Personen fühlen wir uns endlich repräsentiert»

Egal, ob es die Folgen einer Krankheit oder jene einer Schwangerschaft sind: In letzter Zeit gehen immer wieder Fotos viral, auf denen nicht ganz perfekte Frauenkörper zu sehen sind. Medienforscher Martin Hermida räsoniert darüber, woher dieser Hype kommt. Ein Gespräch über Photoshop, Hollywood und Männer mit Nachholbedarf.
13.09.2015, 17:4214.09.2015, 14:36
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Herr Hermida, woher kommt grundsätzlich das Bedürfnis, sich so gut wie nackt im Internet zu zeigen?
Martin Hermida: Eigentlich geht es da ja immer um eine gewisse Botschaft, die dahinter steckt. Die Frauen wollen sich beispielsweise auf möglichst originelle Weise gegen gewisse Schönheitsideale wehren. Und dafür nutzen sie dieselbe Masche, die auch sonst beim Thema Schönheit zieht – und die lautet eben «Sex sells». Nur, dass hier die «normalen» Schönheitsideale vermittelt werden sollen.

Vor ein paar Wochen gab es den Trend #loveyourlines. Da ging es darum, Fotos von Dehnungsstreifen zu posten – also zu zeigen, dass man nicht perfekt ist. Woher kommt das Bedürfnis, diese «Schwächen» zu präsentieren?
Das kommt daher, dass solche Schwächen normalerweise in den Medien ausgespart werden. Dort wird dieses immer perfekte Bild – besonders der Frau, zunehmend aber auch der Männer – portiert. Dieses Bild hat aber nichts mit dem realen Leben zu tun. Und so entsteht ein Bedürfnis, diesen überhöhten Standards, die vor allem auch durch zahlreiche Post-Production-Prozesse wie Photoshop und Co. entstehen, normale und somit echte Bilder entgegenzuhalten.

Martin Hermida ist Lehrbeauftragter und Forschungsassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich.
Martin Hermida ist Lehrbeauftragter und Forschungsassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich.
bild: zvg

Ebenfalls für Aufmerksamkeit hat eine Frau gesorgt, die sich auf der Strasse ausgezogen hat mit der Message «Wenn du auch mal unter Magersucht oder ähnlichem gelitten hast, male ein Herz auf meinen Körper». Warum werden Themen wie Magersucht auf so «aggressive» Weise thematisiert?
Damit eine Botschaft bei den Menschen ankommt, müssen solche Videos und Bilder «viral gehen». Und diese viralen Inhalte weisen immer gewisse Eigenschaften auf. Die Erste ist: Sie müssen überraschend sein. Dass sich jemand mitten auf der Strasse auszieht, ist schon mal per se überraschend. Wenn die Person dann noch verlangt, dass man ein Herz auf ihren Körper malt, dann ist das noch ein weiteres Überraschungselement. Und dass man auf so eine Art und Weise auch noch versucht, die Leute für Magersucht zu sensibilisieren, ist noch einmal mehr überraschend. Weil wir diesem Thema sonst vielleicht eher in flauen Gesundheitskampagnen begegnen.

Welche Eigenschaften müssen noch erfüllt sein, damit so ein Video viral geht?
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Nützlichkeit. Man muss das Gefühl haben: «Dieser Inhalt bringt mir selber oder meinen Mitmenschen etwas und darum teile ich den weiter.» Und wenn man jetzt daran denkt, dass diese perfekten Beauty-Standards auch immer wieder mit dem Thema Magersucht in Verbindung gebracht werden, dann haben viele Menschen das Gefühl, dass es gut ist, wenn sie die Welt – oder zumindest ihr näheres Umfeld – dafür sensibilisieren.

Man selbst teilt den Inhalt also, weil man glaubt, dass man anderen Menschen damit helfen kann?
Ganz genau. Und darum spielt auch ein gewisser Neuigkeitswert eine wichtige Rolle. Wenn es um etwas geht, das ohnehin jeder kennt, dann wird so ein Inhalt nicht geteilt. Was ausserdem noch sehr wichtig ist bei diesen viralen Geschichten, ist die Ehrlichkeit. Die Leute müssen erkennen können, dass es wirklich um eine echte Person und deren Gefühle geht. Das ist auch der Grund, warum grosse Firmen oftmals scheitern, wenn sie versuchen, eine Kampagne in einem ähnlichen Stil zu entwickeln. Die Menschen durchschauen, dass die Geschichte nicht echt ist – und teilen sie deswegen nicht.

Was ist mit Frauen, die zeigen wollen, dass sie eine Brustkrebs-Erkrankung überstanden haben und darum Fotos posten, die sie mit nur noch einer oder ganz ohne Brüste zeigen? Welches Motiv steckt dahinter?
Da geht es um etwas, das sonst in der Gesellschaft totgeschwiegen wird. Und es ist etwas, das aufgrund der Standards der Medien als eine Abwertung verstanden wird, weil dieses perfekte Bild der Frau von der betroffenen Person so nicht mehr wiedergegeben werden kann. Und dem versucht man etwas entgegen zu halten, indem man sagt: «Es ist auch okay, wenn man so ist.»

«Ob Sie Zeitschriften, CD-Covers, Werbeplakate oder Filme anschauen – da wird überall geschönt.»

Wiederum zwei andere Frauen haben mit ihren Fotos das Thema Schwangerschaft und ihre Folgen beackert. Warum gehen solche Inhalte viral, wo doch eigentlich jeder Frau bewusst ist, dass man auch ein paar Wochen nach einer Schwangerschaft noch Spuren davon erkennen wird?
Man weiss diese Dinge eigentlich schon – und trotzdem findet man in den Medien keine Repräsentation davon. Dort wird ein umgekehrtes Frauenbild verkauft. Beispielsweise Heidi Klum: Die hat damals nur wenige Wochen nach der Geburt ihres Kindes wieder gearbeitet und da hat man dann in den Schlagzeilen gelesen: «Sie sieht schon wieder aus wie vor der Schwangerschaft!» Die Bilder in den Medien sind immer auf diese Art aufgeladen. Und einen Teil der Welt-Wahrnehmung haben die Leute eben aus den Medien und halten das dann auch für repräsentativ.

Es geht also immer darum, das von den Medien geschaffene Bild gerade zu rücken?
Genau. Die Menschen merken, dass solche Inhalte von den Medien nicht produziert werden, also beschliessen sie, es als Nutzer zu tun – und speisen sie dann über diese «Guerilla-Technik» selbst in die Medienwelt ein.

Ist es nicht vor allem auch die Modeindustrie, die immer wieder den Mager-Wahn ankurbelt, und die darum solche Gegenbewegungen auslöst?
Die Modeindustrie spielt sicher eine Rolle. Aber dort hat sich ja auch schon etwas getan. In Frankreich gibt es zum Beispiel für Laufstegmodels gewisse Grenzwerte in Sachen Gewicht beziehungsweise Body-Mass-Index, die nicht unterschritten werden dürfen. Das Problem an sich geht aber über die Modebranche hinaus: Ob Sie jetzt Zeitschriften, CD-Covers, Werbeplakate oder Filme anschauen – da wird überall geschönt. Darum gilt diese Gegenbewegung der gesamten medialen Darstellung von Männern und Frauen.

«Ich bin sicher, dass wir das in den nächsten Jahren auch für Männer sehen werden.»

Die Empörung über dieses verzerrte Bild ist ja nun nicht neu. Ändern wird sich daran – wenn wir mal ehrlich sind – aber nichts. Werden solche Protest-Aktionen also auch in 10 Jahren noch Anklang finden?
Das denke ich schon, ja. Die Medien haben natürlich immer den Ansporn, das Ideal zu zeigen. Man will das schönste Foto abdrucken, man versucht in Filmen die schönsten Frauen und Männer zu zeigen. Und wenn sie doch nicht ganz so schön sind, dann wird eben noch digital daran rumgebastelt. Wir leben aber auch davon, dass wir in den Medien Ideale sehen. Das geht zurück bis auf die Märchen, in denen ebenfalls Ideale gezeigt werden, weil beispielsweise am Ende das Gute siegt. Wichtig ist einfach, dass wir uns dessen bewusst sind, dass das alles geschönte Normalitäten sind.

Geht es bei diesen Protestaktionen auch um eine Form von Katharsis: Indem wir mit den Menschen im Internet mitleiden können, geht es uns selbst besser?
Das auch. Viel wichtiger ist aber, dass wir uns durch diese Personen endlich mal repräsentiert fühlen. Sich in diesen Idealen wiederzukennen, ist schwierig. Wir sind ja eher diejenigen, die nach dem Ideal streben – was aber praktisch nicht erreichbar ist. Durch solche Protestaktionen fühlen wir uns plötzlich in den Medien repräsentiert. Und das ist genau das, was wir von den Medien, aber auch von Filmen oder Musik verlangen: Wir wollen uns darin selbst wiedererkennen.

Sie sagen, dass zunehmend auch Männer bei solchen Protestaktionen eine Rolle spielen. Im Moment ist es aber vor allem ein weibliches Phänomen. Warum ist das so?
Die Überhöhung der Schönheitsideale des Mannes spielt erst so seit zehn bis fünfzehn Jahren eine Rolle. Bei den Frauen gibt es dieses Phänomen schon deutlich länger. Ausserdem sind deutlich mehr mediale Darstellungen mit Frauen besetzt. Ob auf Werbeplakaten oder in Autowerbungen – da wird das Schönheitsideal der Frau jedes Mal so sehr breitgetreten. Darum zielen so viele dieser Kampagnen, die wieder die Normalität auf den Plan rufen wollen, auf das Image der Frauen ab. Aber ich bin sicher, dass wir das in den nächsten Jahren dann auch für Männer sehen werden.

#loveyourlines: Diese (fast) perfekten Frauen machen (fast) perfekte Fotos

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#loveyourlines: Diese (fast) perfekten Frauen machen (fast) perfekte Fotos
Die Macher der Instagram-Seite «loveyourlines» sammeln Fotos von Frauen, die ihre Körper mitsamt kleiner Makel zeigen. Jede Frau erzählt dazu ihre Geschichte.
quelle: instagram.com/loveyourlines/
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