Seit Tagen steht die syrische Stadt Kobane unter Beschuss und Angriff der terroristischen Organisation Islamischer Staat. Kobane, auch Ain al-Arab genannt, ist mehrheitlich kurdisch bewohnt und liegt wenige hundert Meter von der syrisch-türkischen Grenze entfernt. Jeden Tag wächst die Anzahl der Flüchtlinge, die von den islamistischen Barbaren flüchten, jede Stunde erreichen uns Meldungen über Fortschritte der IS bei der Eroberungen der syrischen Kurdenstadt Kobane.
Der IS steht vor den Toren des Westens. Die Barbaren sind so nahe an der türkischen Grenze, dass Journalisten von der türkischen Grenzstadt Mürsitpinar die Minarette in Kobane von blossem Auge erkennen und mit Teleobjektiven gar das Hissen der IS-Flaggen auf Wohnhäusern in Kobane filmen können. Auf der Karte oben ist ersichtlich, wie nahe der IS der Türkei ist.
Die Kurden rufen derweil die westliche Welt zum Handeln auf. Doch während die IS-Kämpfer Meter für Meter vorrücken, schauen Washington, Brüssel und Ankara bei dem Drama fast tatenlos zu. Dies, obwohl die Stadt durch ihre Nähe zur Türkei für den Westen strategisch wichtig ist. Was sind mögliche Gründe für das Zögern des Westens?
Ein Grund für das türkische Zögern im Kampf gegen den IS könnte das angeschlagene Verhältnis zwischen der Türkei und den Kurden sein. Die syrische Kurdengruppe PYD («Partei der Demokratischen Union») gilt als Tochterorganisation der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in vergangenen Jahrzehnten im Krieg gegen die Türkei stand. Ihr Ziel ist es das politische Selbstbestimmungsrecht der Kurden in der Türkei durchzusetzen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat deshalb keine Sympathie für die PYD. Am Sonntag, 5. Oktober, bekräftigte Erdoğan, für die Türkei gebe es keinen Unterschied zwischen der PKK und dem IS. Beide müssten bekämpft werden.
Gleichzeitig drohen Erdoğan katastrophale innenpolitische Folgen, sollte Kobane an den IS fallen. Die PKK droht in diesem Fall mit dem Abbruch der Friedensgespräche und mit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes gegen Ankara. Die PKK und die Türkei befinden sich zurzeit in Friedensgesprächen, ein Projekt, welches Erdoğan selbst vorantrieb.
Nichts tun kann die Türkei jedoch nicht: Seit Tagen schlagen IS-Raketen auch im türkischen Grenzgebiet ein. Mehrere Menschen sind dabei verletzt worden, einen Gegenschlag von türkischer Seite erfolgte zunächst nicht. Derweil skandieren auch im weit entfernten Istanbul türkische Bürger «Überall ist Kobane, überall ist Widerstand».
Am Dienstag erklärte Erdogan, die Türkei sei zu einer Bodenoffensive gegen IS bereit. «Der Terror wird mit Luftangriffen nicht aufhören.» Die Türkei sei «zu allem» bereit, sagte auch Premierminister Ahmet Davutoglu. Allerdings müssten die Staaten sich auf eine Strategie gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad einigen. Zudem würde Ankara nur dann Truppen entsenden, «wenn andere ihren Anteil leisten». Die Frage ist, wann die «anderen» dies tun.
Fakt ist: Erdoğan hat ein Dilemma. Er will nun handeln, zögert aber weiterhin. Einen Ausweg aus dieser Krise könnten alliierte Luftangriffe bieten, sprich wenn die USA zusammen mit den verbündeten Staaten die IS-Kämpfer vor und in Kobane angreifen würden. Ein Flüchtling, von der «Washington Post» Hamida Mohammed genannt, sagte treffend, Amerika könnte den IS in einem Tag stoppen – wenn es die USA nur wollten.
Andrew Tabler vom Washington Institute für Nahostpolitik sieht den Grund für Amerikas Zögern in der Prioritätensetzung. Der aktuelle US-Einsatz sei eine Frage der Stabilisierung des Iraks und nicht des Schutzes der Minderheiten, sagte er gegenüber «Washington Post». Syrien sei zurzeit nur zweite Priorität, weil man die Durchschlagskraft des IS im Irak schwächen wolle. Sprich: Wenn man den IS im grösseren Kontext bekämpft, dann gewinnt man auch Kobane zurück.
Was ist mit der Europäischen Union? Sie verharrt weitestgehend in der Zuschauerrolle. Einige Länder beteiligen sich mit Luftschlägen. Doch eine gemeinsame Haltung ist nicht in Sicht. Europa ist sich uneinig, wie und wem man helfen soll. Die Diskussion darüber, ob Waffen geliefert werden sollen, laufen.
Das zeigt, wie schlecht die EU auf diesen Konflikt vorbereitet ist. Deutschland beliefert die Kurden nun mit altem Bundeswehrmaterial, allerdings ausschliesslich die nordirakischen Peschmerga-Kämpfer. Die – im Kampf gegen die Extremisten sehr viel erfolgreichere – PKK und deren syrischer Ableger YPG gehen leer aus, weil sie offiziell als Terrororganisation eingestuft sind.
Mit Ergänzungen vom Spiegel-Artikel «Die Schande von Kobane» von Hasnain Kazim, Istanbul.