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Schweiz
Ignazio Cassis möchte als achter Tessiner in den Bundesrat einziehen. Die historischen Umstände der erfolgreichen Kandidaturen seiner sieben Vorgänger erlauben Rückschlüsse auf seine Chancen.
Sie versuchen es bei jeder Gelegenheit: Fast immer, wenn eine Vakanz im Bundesrat zu besetzen ist, bringen sich Tessiner Politikerinnen und Politiker in Stellung. In den letzten zwei Jahrzehnten allerdings stets erfolglos. Nur einmal in der Geschichte des Bundesstaats – von 1864 bis 1912 – wartete der Südkanton länger auf einen eigenen «consiglio federale» als aktuell: seit dem Rücktritt von CVP-Magistrat Flavio Cotti vor 18 Jahren. In diesem Jahr nun scheint die Konstellation so günstig wie nie seit der Jahrtausendwende – und doch ist die Wahl von Ignazio Cassis alles andere als sicher. Welche Lehren lassen sich aus den erfolgreichen Tessiner Kandidaturen der letzten 169 Jahre ziehen?
Zunächst: Jede Wahl ist unterschiedlich. Eine einzelne siegbringende Komponente, die bei allen erfolgreichen Kandidaturen aufgetreten wäre, existiert nicht. Die folgenden vier Voraussetzungen vermögen die Chancen auf eine Tessiner Wahl jedoch zumindest zu steigern: wenig Konkurrenz, eine international angespannte Lage, überparteiliche Absprachen, gespaltene Welsche.
Diese Bundesräte kamen aus dem Tessin:
Der in den ersten Bundesrat gewählte Stefano Franscini (1848–1857) erhielt von allen Gewählten am wenigsten Stimmen. Er profitierte davon, dass die FDP damals alle sieben Regierungsmitglieder stellte, weshalb man einen Sitz ans Tessin abtreten konnte, ohne dass ambitionierte Freisinnige aus anderen Landesteilen hätten zurückstehen müssen. Gleiches galt auch für seinen Nachfolger Giovanni Battista Pioda (1857-1864). Danach verschärfte sich die Konkurrenzsituation: Einerseits, weil die Aufgabe attraktiver wurde, da die Kantone zunehmend Kompetenzen an den Bund abgaben; andererseits, weil mit den Katholisch-Konservativen – der späteren CVP – ab 1892 eine zweite Partei in die Regierungsverantwortung miteinbezogen wurde.
Der sich abzeichnende Erste Weltkrieg sowie separatistische Tendenzen im Südkanton waren ausschlaggebend dafür, dass man es Ende 1911 über Parteigrenzen hinaus für klug hielt, mit Giuseppe Motta (1912–1940) erstmals nach 48 Jahren wieder einen Tessiner in den Bundesrat zu wählen. Dieselbe Überlegung führte inmitten des Zweiten Weltkriegs zur Wahl Enrico Celios (1940–1950) als Nachfolger des im Amt verstorbenen Mottas. «Um dem Land die grösstmögliche Einheit zu garantieren und im nahen Italien keinen Anstoss zu erregen», wurde der Tessiner Sitzanspruch nicht infrage gestellt, wie es im von Historiker Urs Altermatt herausgegebenen Bundesratslexikon heisst.
Weil die exponierte Lage des Tessins nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so ins Gewicht fiel, wurde Celio nicht durch einen Italienischsprachigen ersetzt. Dass mit Giuseppe Lepori (1955– 1959) wenig später doch wieder ein Tessiner in die Kränze kam, ist auf eine spezielle Konstellation zurückzuführen: Erstmals seit Jahrzehnten waren im Dezember 1954 gleich drei Sitze neu zu besetzen. Um die nach wie vor über die absolute Mehrheit verfügende FDP zu schwächen, schnürte die CVP ein Päckchen mit den vorübergehend nicht mehr im Bundesrat vertretenen Sozialdemokraten: Lepori sollte für die CVP einen dritten Sitz erobern, der zu einem späteren Zeitpunkt an die SP gehen sollte.
Nello Celio (1967–1973) profitierte bei seiner Wahl vom Versagen von Vorgänger Paul Chaudet, der im Zentrum der «Mirage-Affäre» stand, und von Unstimmigkeiten im welschen Lager: Während die FDP des bevölkerungsreichen Kantons Waadt weiterhin Anspruch auf einen Sitz erhob, lancierten die Kantonalparteien Wallis und Freiburg einen anderen Kandidaten – Celio avancierte zum lachenden Dritten. Unumstritten war hingegen die Wahl des damaligen CVP-Präsidenten Flavio Cotti (1987– 1999). Ihm kam zugute, dass beide der Partei gemäss Zauberformel zustehenden Sitze neu zu besetzen waren: So konnte ein Mandat an die Ostschweiz und eines ans Tessin vergeben werden.
Welche der vier skizzierten Komponenten sprechen nun für eine Wahl Ignazio Cassis’ am 20. September? Fast alle.
Unterlaufen ihm in den nächsten acht Wochen keine schwerwiegenden Fehler, wird die Tessiner Bevölkerung bald ihren achten Bundesrat jenseits des Gotthards empfangen dürfen.