Vergewaltigung
Gefängnis trotz Freispruch: Wie Aargauer Richter grobe Fehler begingen

Ein Mann sass über ein Jahr im Gefängnis, weil ihn seine Frau wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Die Richter begingen grobe Fehler. Strafrechtler beobachten eine Trendwende.

Andreas Maurer
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Der schwierigste Moment für Murat Wenn er im Besucherraum des Badener Bezirksgefängnisses seinem Enkel erklären muss, was er nicht getan hat.

Der schwierigste Moment für Murat Wenn er im Besucherraum des Badener Bezirksgefängnisses seinem Enkel erklären muss, was er nicht getan hat.

Illustration: Alexia Papadopoulos

Murat * (44) hat Augenringe. Er sagt, er habe sie erst seit seiner Zeit im Gefängnis. Jeden Tag habe er geweint. Kaum auszuhalten sei eine wiederkehrende Szene im Besucherraum des Bezirksgefängnisses von Baden gewesen: Wenn ihm sein Enkel gegenübersass, die Nase an die Scheibe zwischen ihnen drückte und ihn fragte, wann er heimkomme.

Murat sass in Haft, weil ihn seine Lebenspartnerin Sibel * (34) wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Das Paar führte eine turbulente Beziehung mit vielen Auf und Ab. Für Streit sorgte der gemeinsame Lebensmittelladen. Sie verlangte, dass er ihr die Hälfte im Wert von 150'000 Franken überschreibe. Er sagte anfangs zu, änderte dann aber seine Meinung, weil er ihr nicht mehr vertraute. Es kam zu einer wüsten Auseinandersetzung. Sie sagte später in der Einvernahme, er habe ihr gedroht, sie umbringen zu lassen. Er sagte aus, sie habe ihm gedroht, ihn wegen Vergewaltigung anzuzeigen.

Fest steht: Sie ging zur Polizei und gab zu Protokoll, was sich über zwei Monate zuvor abgespielt haben soll. Er habe sie einmal im Wohnzimmer und mindestens viermal im Schlafzimmer vergewaltigt. Eigentlich habe er jeden Tag Sex gewollt, sie nicht. Dennoch habe sie meistens eingewilligt und mitgemacht, damit er sie in Ruhe lasse. Wenn sie sich gewehrt habe, sei sie chancenlos geblieben. Er habe sie an den Händen festgehalten oder ihr ein Kissen oder eine Hand auf den Mund gedrückt. Einmal habe er sie gegen den Bettrahmen gestossen, wodurch sie ohnmächtig geworden sei.

In den Einvernahmen und Gerichtsverhandlungen wollte sie die Übergriffe aber nicht näher beschreiben, da dies für sie belastend sei. Zum Streit um den Lebensmittelladen äusserte sie sich widersprüchlich. Zuerst stritt sie diesen ab, später bestätigte sie ihn. Dies sei aber nicht der Auslöser für ihre Anzeige gewesen, sondern die angeblichen Todesdrohungen.

Normalerweise würde diese Geschichte spätestens nach der Hauptverhandlung des Badener Bezirksgerichts enden. Die fünf Richter sprachen Murat einstimmig frei. Steht Aussage gegen Aussage, muss für einen Schuldspruch kein absoluter Beweis vorliegen, aber mehr als eine blosse Wahrscheinlichkeit.

Deutsche urteilen anders

In der Schweiz schätzen die Richter die Glaubwürdigkeit von Befragten in der Regel selber ein. In Deutschland hingegen ist es üblich, aussagepsychologische Gutachten einzuholen. Von Schweizer Richtern wird erwartet, dass sie die Regeln der Aussagepsychologie beherrschen. Ein Grundsatz lautet: Je detaillierter, individueller und in sich verflochtener eine Aussage ist, umso glaubhafter ist sie. So gilt es als einfach, ein wirklich erlebtes Ereignis mit vielen Details zu schildern. Im Gegensatz dazu gilt es als schwierig, einen nicht erlebten Sachverhalt facettenreich zu beschreiben. Die Badener Richter forderten Sibel deshalb mehrfach auf, die Taten näher zu beschreiben. Sie sei dabei aber «oberflächlich und schwammig» geblieben, hielt das Gericht im Urteil fest. Deshalb entschieden die Richter im Zweifel für den Angeklagten, «in dubio pro reo».

Unschuldig, aber verdächtig

Nach dem Freispruch folgte die Überraschung: Murat kam nicht frei. Die Aargauer Justiz fällte einen aussergewöhnlichen Entscheid. Nachdem die Staatsanwaltschaft Berufung angemeldet hatte, musste die nächste Instanz über die Haftentlassung befinden. Das Obergericht beschloss, Murat müsse wegen Fluchtgefahr eingesperrt bleiben, obwohl soeben seine Unschuld festgestellt worden war. Ein Gericht kann die Haft nach einem Freispruch verlängern, wenn es ein offensichtliches Fehlurteil nachweisen kann. Zum Beispiel wenn in den Akten ein Geständnis übersehen worden war. Die Aargauer Oberrichter hatten nichts Derartiges gefunden. Aber sie interpretierten Sibels Aussage anders. Monate später kehrten sie bei der Hauptverhandlung den Freispruch in einen Schuldspruch und verurteilten Murat zu fünf Jahren Gefängnis. Sie stuften Sibels Aussagen als glaubwürdig ein.

Kürzlich hob nun die höchste Instanz, das Bundesgericht, das Urteil wieder auf. Es warf den Aargauer Richtern Willkür vor. Sie hätten den Grundsatz «in dubio pro reo» verletzt. Die Richter ignorierten etwa die Aussage, es könne sich um eine Racheanzeige handeln. Das Obergericht muss nun einen neuen Entscheid fällen.

Man könnte bilanzieren: Die Justiz funktioniert, Fehlurteile werden korrigiert. Nur: Murat sass deswegen 16 Monate im Gefängnis. Er drohte, daran zu zerbrechen.

Absurd wirkt der Fall, wenn man die Vorgeschichte kennt. Sibel hatte Murat schon einmal wegen Vergewaltigung angezeigt. Das war an ihrem früheren Wohnort in Basel. Murat sass dort elf Monate im Untersuchungsgefängnis Waaghof. Als er freikam, versöhnten sie sich und versuchten einen Neuanfang im Aargau.

Die Geschichte zeigt die menschlichen Abgründe, die sich auftun können, wenn Liebe blind macht. Sie zeigt aber auch, dass im Gefängnis viel Zeit verstreichen kann, bis sich der Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» durchsetzt. In Basel wurde Murat von den ersten beiden Instanzen verurteilt. Auch hier hob erst das Bundesgericht den Schuldspruch auf und wies den Kantonsrichtern massive Verfahrensfehler nach.

Murat zieht Bilanz: Die Zeit im Badener Bezirksgefängnis sei schlimmer gewesen als jene im Basler Waaghof. In Baden durfte er nur eine Stunde pro Tag aus der Zelle. Im Gruppenvollzug in Basel konnte er sich etwas bewegen.

Richter zeigen mehr Härte

Kriminologe Martin Killias hat eine Studie über Fehlurteile durchgeführt. Innert zehn Jahren hob das Bundesgericht 232 Urteile von niederen Instanzen auf. In 57 Prozent der Fälle stellte sich heraus, dass die Angeklagten zu Unrecht verurteilt worden waren. Killias stellt eine Trendwende fest, die ungefähr in den 1970er-Jahren begonnen habe: «Früher urteilten Richter im Zweifel eher für den Angeklagten. Heute erhält eher das Opfer Recht.» Kein Richter wolle den Anschein erwecken, er nehme einen schweren Vorwurf wie eine Vergewaltigungsanzeige nicht ernst: «Deshalb fällen Gerichte tendenziell eher als früher einen Schuldspruch, wenn Aussage gegen Aussage steht.» Bei Vergewaltigungsanzeigen bedeutet dies: im Zweifel für die Frau. 2016 wurden schweizweit 493 Männer und zwei Frauen beschuldigt.

Bruno Steiner kennt die Justiz von verschiedenen Seiten. Er war 16 Jahre lang Richter, 4 Jahre Staatsanwalt, heute ist er Strafverteidiger. «Bei Vergewaltigungsfällen setze ich grosse Fragezeichen hinter die Rechtsstaatlichkeit der Justiz», sagte er im «Beobachter». Er habe in all den Jahren einfach zu viel erlebt. Dass Vergewaltigungsverfahren früher regelmässig eingestellt wurden, sei genauso falsch: «Doch heute hat das Pendel zu stark auf die andere Seite ausgeschlagen.»

Wettermoderator Jörg Kachelmann sass vier Monate in Haft, weil ihm eine Geliebte eine Vergewaltigung unterstellt hatte. Er versuche nun, eine neue Existenz aufzubauen, sagt er auf Anfrage. Das sei nicht einfach: «Denn Falschbeschuldigungen funktionieren wunderbar.»
Killias vermutet, ein wegen Vergewaltigung Angeklagter habe bessere Chancen auf einen Freispruch, wenn das Gericht mit Frauen besetzt sei. Denn: «Spricht eine Frau einen Mann frei, wird sie nicht verdächtigt, Männer generell zu bevorteilen.» Ob die These zutreffe, sei allerdings nie systematisch untersucht worden. Falls sie stimmen sollte, könnte die Zukunft die Lösung bringen: «Der Richterberuf wird zunehmend zu einem Frauenberuf.» Bei den Jus-Studenten sind Frauen in der Mehrheit. Überproportional viele gehen in die Gerichte. Das könne sich auf deren Arbeitsweise auswirken.

Auch Murats Fall könnte die Rechtsprechung verändern. Sein Anwalt Andreas Noll legte wegen der verlängerten Sicherheitshaft beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde ein. Es geht ihm nicht nur um eine Haftentschädigung. Er will erreichen, dass ein Angeklagter nach einem Freispruch auch tatsächlich freikommt. Er sagt: «Dass die Haft einfach so verlängert wird, gibt es in Europa in keinem anderen Land als in der Schweiz.»

* Namen geändert