Kind
Geburt: ein natürlicher und trotzdem schockierender Vorgang – Bericht aus Vatersicht

Es heisst, die Geburt sei ein absolut natürlicher Vorgang. Dennoch lässt das Ereignis unseren Autor erschüttert zurück. Da hilft alle Vorbereitung und Information nichts.

Daniel Fuchs
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Eine Nacht und einen halben Tag später ist nichts mehr, wie es war. Wilde Stunden mitten im abgesicherten, zivilisierten Leben. Mann kann nur zusehen.

Eine Nacht und einen halben Tag später ist nichts mehr, wie es war. Wilde Stunden mitten im abgesicherten, zivilisierten Leben. Mann kann nur zusehen.

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Es ist kurz nach ein Uhr in der Früh. Wir stehen vor der Notfall-Pforte. Über alles haben wir uns informiert, die Geburtenabteilung besucht, uns den Ablauf und den Weg eingeprägt, auch in der Nacht. Der Türöffner summt, ich stosse die weisse Tür auf. Ein Not-Sanitäter nimmt uns in Empfang und weist uns den Weg in den oberen Stock, wo wir auf die Hebamme warten sollen.

Nicht nur die Maternité haben wir besichtigt, wir haben Artikel gelesen, Bücher durchblättert, das Internet durchforstet. Auch einen Geburtsvorbereitungskurs haben wir besucht. So viel wird geschrieben über die Geburt, so viel erzählt.

Uns steht das wahrscheinlich natürlichste Ereignis überhaupt bevor. Und zugleich wird es das extremste Erlebnis sein, das uns heute als Menschen widerfahren kann. Wir sind auf dem Sprung aus der Normalität hinaus. Wir stürzen uns in ein extremes Abenteuer, lassen uns fallen, wie es Tag für Tag, Nacht für Nacht andere Paare auch tun. Wir werden etwas erleben, was wir uns in den kühnsten Vorstellungen nicht ausmalen können und sich auch nachträglich nur schwer in Worten beschreiben lässt. Ich versuche es trotzdem.

Im Vorbereitungskurs wollte die Hebamme auch übers Stillen sprechen. Doch was interessierte uns das Stillen! Zwei Stunden löcherten wir sie mit Fragen zu den Signalen und den Ablauf einer Geburt. Und trotzdem wusste ich rein gar nichts, wie ich in dieser Nacht und dem Morgen danach feststellen musste.

Die Partnerin ist schlecht gelaunt

Losgegangen ist es am Abend nach der Arbeit. Die letzte Mahlzeit zu zweit wurde ein Kapitel zum Vergessen: Der Rest einer vor Tagen geöffneten Packung Fertigspätzli, dazu Zucchini-Rüebli-Pfanne an einer misslungenen Sauce. Es war 20 Uhr, die Stimmung an ihrem Tiefpunkt angelangt. Sie: «Was für ein Scheisstag!» Sie war mies gelaunt. Äusserst mies gelaunt. Hatte den Vormittag im Bett verbracht, fühlte sich angeschlagen wie bei einer Grippe, Beine und Rücken schmerzten. Am Nachmittag war sie nicht aus dem Haus gekommen. Ich räumte enttäuscht die Teller weg, gab mir einen Ruck und motivierte sie zu einem Abendspaziergang.

Gemächlich spazierten wir durchs Quartier, da setzen die Wehen ein. Solche Vorgeburtswehen habe sie schon vorher gehabt, sagt sie mir. Und komischerweise heiterte sich ihre Miene auf. Es schien, als hätten die einsetzenden Wehen ihre Stimmung gehoben. Das Handy lag in der Hosentasche, verfügte über genügend Akku, falls es doch plötzlich schnell gehen sollte. Alles unter Kontrolle, dachte ich mir und erinnerte mich an die Hebamme, wie sie von einem Prozess über Stunden referiert hatte.

Vater werden ist doch schwer.

Vater werden ist doch schwer.

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Die Pausen zwischen den Wehen wurden immer kürzer. Allmählich dämmerte es mir, wird es heute losgehen? Ich fragte, sollen wir im Spital anrufen? Nein, noch sei alles gut, entgegnete sie.

In einem Waldstück entdeckten wir einen kleinen Trampelpfad, den wir nie zuvor gesehen hatten. Trotz ihres Zustands war meine Partnerin zu Abenteuern aufgelegt. An einer Hausmauer mitten in einem Komposthaufen war Schluss. Dickicht drumherum, Sackgasse. Wir mussten zurück.

Die Wehen kamen nun bereits im 5-Minuten-Takt. Etwas gar schnell, fand ich. Alles easy, fand sie. Zurück auf dem Weg fragte ich, ob ich das Auto holen soll. Sie verneinte, langsam kehrten wir zur Wohnung zurück. Es war bereits weit nach 10 Uhr abends, als wir im Spital anriefen. Dort beruhigte man uns, wir sollten noch zu Hause bleiben. Meiner Partnerin wurde empfohlen, ein Entspannungsbad zu nehmen. Ich packte die letzten Sachen zusammen, tigerte nervös in der Wohnung herum. Überlegte mir, ob ich den Kollegen auf der Redaktion jetzt schreiben sollte, dass ich verhindert sein werde die nächsten Tage. Schliesslich hatte ich noch damit begonnen, eine Geschichte zu recherchieren, die die Chefs unbedingt wollten. Ich setzte eine Mail auf, fügte ihr meine Rechercheergebnisse bei und speicherte sie erst mal als Entwurf.

Es wurde halb zwölf, die Partnerin stieg aus dem Bad. Erneut riefen wir beim Spital an. Wir sollten uns hinlegen und anrufen, wenn die Wehen stärker würden oder wenn Fruchtwasser abfliesse.

Fruchtwasser klatscht zu Boden

Nach Mitternacht legte auch ich mich aufs Ohr. Im selben Augenblick sprang meine Partnerin wie von einer Wespe gestochen aus dem Bett, ich hörte Wasser auf den Boden klatschen. Sie stand im Nassen und blickte mich erschrocken an. Die Fruchtblase war geplatzt. Okay, wieder das Telefon. Jetzt hiess es: «Nun solltet ihr euch auf den Weg machen, ihr müsst euch aber nicht beeilen.»

«Lasst das Auto stehen und nehmt ein Taxi», hatte uns die Hebamme am Vorbereitungskurs gemahnt. «Nicht dass du vor lauter Aufregung noch einen Unfall baust.» Natürlich holte ich den Wagen trotzdem. Während der Fahrt ins Spital besprachen wir die letzten Dinge, einigten uns definitiv auf den Namen. Und jetzt, kurz nach 1 Uhr in der Früh vor der Nachtpforte des Spitals, ist alles bereit. Ich auch?

In der Ecke des Gebärzimmers steht eine Wanne, in der Mitte das Bett, zwei Stühle hat es auch. Dann ein erster Schock. Die Hebamme sagt, der weitere Prozess könne sich trotz gesprungener Blase noch über Stunden hinziehen. Die werdende Mutter könne in dieser Zeit noch auf ein Bettenzimmer. Für mich aber gebe es keinen Platz, ich solle zuhause warten. Mein Hals schnürt sich zu, meine Partnerin wird nervös.

Erst einmal zeichnen Maschinen die Herztöne des Ungeborenen und die Kadenz der Wehen auf. Sie werden nun schnell heftiger. Später wird meine Partnerin erzählen, dass sie in diesem Moment die Schwangerschaft dermassen satthatte, sie mich nicht zuhause wollte, sondern bei ihr. Im Gebärzimmer wird klar, ich muss doch nicht nach Hause. Es geht los.

Die Wehen werden heftig. Sie ist froh, kann sie ins warme Wasser der Badewanne, in dem sie sich ein wenig entspannt. Doch die Pausen zwischen den Wehen werden immer kürzer. Die Hebamme bietet meiner Partnerin die PCA-Pumpe an. Mittels Knopfdruck kann sie so bei jeder Wehe selbstständig die Schmerzspitzen brechen. Die Pumpe gibt ein stark wirkendes Opioid ab. Die Schmerzen müssen so stark sein, dass zumindest ich von einer Schmerzlinderung nichts mitbekomme.

Das Opioid vernebelt die Sinne. Meine Partnerin kämpft mit dem Kontrollverlust, erst kommt der Schwindel, dann das Flash. So geht es weiter und weiter, die künftige Mutter meines Kinds ist high.

«Doch, doch, Sie können noch»

«Ich kann nicht mehr», sagt sie nach einer besonders heftigen Wehe, Stunden, nachdem sie sich in die Badewanne gesetzt hat. Vage erinnere ich mich daran, dass ich vor diesen Worten gewarnt wurde. «Irgendwann kommt sie an den Punkt, an dem sie sagt, sie könne nicht mehr. Sie kann aber», sagte die Hebamme während des Vorbereitungsgesprächs. Trotzdem gerate ich in einen Loyalitätskonflikt, ich möchte meiner Partnerin helfen, nur wie? Ich sage der Geburtshelferin: «Sie kann nicht mehr.» Diese sagt direkt zu ihr: «Doch, doch, Sie können noch.»

Die Hebamme fragt meine Partnerin, ob sie den Schmerz mittels PDA (Periduralanästhesie) lindern möchte. Sie, gerade klingt eine besonders heftige Wehe ab, bejaht mit kraftloser Stimme. «Dann müssen Sie aus dieser Wanne raus», sagt die Hebamme. «Was? Nein, nie im Leben, ich verlasse diese Wanne nicht mehr», antwortet sie erbost. Irgendwann willigt sie doch ein. Eine Ewigkeit bleibt die Hebamme weg, es ist ungefähr vier Uhr in der Früh. Doch das Anästhesieteam kann nicht, ist kurzzeitig an einem Not-Kaiserschnitt gebunden. Enttäuscht und entkräftet lässt sich meine Partnerin in der Wanne zusammenfallen, ehe sie die nächste Wehe in Starrposition rückt. Oje, denke ich. Doch was soll ich tun?

Die Hebamme bemerkt die Enttäuschung. Mir bietet sie einen Kaffee an. Während meine Frau in der Wanne leidet, schlürfe ich froh an einer heissen Tasse Kaffee.

Erst gegen 6 Uhr in kommt die Erlösung. Die Anästhesie-Glücksbringer erscheinen grün gekleidet im Gebärzimmer. Wer an diesem Punkt meint, der Schmerz sei nun passé, der irrt. Die Schläuche für die PDA müssen am Rücken verlegt werden. Für meine Partnerin folgt eine Tortur. Zuerst muss sie aus der Wanne und sich aufs Bett setzen, dafür hat sie eigentlich längst keine Kraft mehr. Und dann muss sie möglichst ruhig halten, damit der Anästhesist die Schläuche richtig legen kann. Wehe um Wehe überfallen die entkräftete Frau, die kaum mehr sitzen kann.

Eine halbe Ewigkeit vergeht, dann kann sie sich hinlegen. Doch wo bleibt die Wirkung? «Das Bett ist so unbequem», beschwert sie sich lauthals und beginnt vor Erschöpfung am ganzen Körper zu zittern. Die Hebamme holt gewärmte Leintücher, in die sie meine Partnerin wickelt. Der schlotternde Körper treibt mir zum ersten Mal in dieser langen Nacht die Tränen in die Augen. Minuten vergehen, nach einer gefühlten Ewigkeit setzt die Wirkung der PDA ein. Das Zittern nimmt ab, der schlotternde Körper beruhigt sich, das Leiden weicht einer gewissen Entspannung.

Ich falle in unruhigen Schlaf

Auch ich entspanne mich. Noch kriege ich mit, wie die Frühschicht-Hebamme die Auszubildende ablöst, schnell schicke ich die vorbereitete Mail an die Arbeitskollegen, erschöpft schnappe ich mir die beiden Stühle und falle in einen hemmungslosen, aber unruhigen Schlaf. Die Partnerin und die Hebamme kommen nun gut zurecht ohne mich.

Am Vormittag kommt der Frauenarzt ein erstes Mal vorbei. Das Ungeborene hat die Geburtsposition noch immer nicht eingenommen. Kurz vor Mittag erwache ich aus meinem Dämmerschlaf. Das Kind will sich nicht mehr weiterbewegen, die bereits weit fortgeschrittene Prozedur hat seine Herztonfrequenz etwas gesenkt. Ich werde ungeduldig und klinke mich wieder in die Runde ein, will wissen, ob man so noch lange weitermachen kann. Bereits geht die Hebamme von einem Kaiserschnitt aus, weil sie nicht mehr erwartet, dass das Köpfchen sich noch in die richtige Richtung dreht. Der Frauenarzt aber werde entscheiden Minuten. Dieser will es noch mit der Saugglocke versuchen.

Ich besinne mich eines Tipps der Hebamme während des Vorbereitungsgesprächs. «Bleibe am Kopf deiner Partnerin und stehe ihr dort bei, bleibe nicht am Bettende stehen, was du von da sehen würdest, könnte dich traumatisieren und auch deine Frau stören.» Traumatisiert bin ich keine Hilfe, ausserdem ekelt es mir vor Blut und anderen Körperflüssigkeiten. Und einen Dammriss will nun wirklich niemand mit ansehen. Also ab ans Kopfende, der Gynäkologe setzt die Glocke an, synchron zum Pressen meiner Partnerin halte ich die Luft an. Auf Anweisungen der Hebamme schnappe auch ich nach Luft. Dann ist das Köpfchen offenbar da, noch sehen wir es vom Bettende her nicht. Ein kurzer Moment der Aufregung, in dem die Hebamme den Hals von der Nabelschnur befreit, dann hängt ein langes, rötliches, nasses, quicklebendiges Kind von den Händen des Arzts. Er legt es auf die Brust meiner Frau. Durch seine verklebten Augen schaut es uns ein erstes Mal an: eine vor Glückshormonen euphorisierte Mutter und einen Vater, dem das Blut längst aus dem Gesicht gewichen ist.

Erst ein rührender, aber erschütternder Moment im Extremerlebnis Geburt. Dem theoretisch normalsten Vorgang menschlicher Existenz.