Simone: Anna, du schaust seit neustem wieder «Germany's Next Topmodel». Ich hab davon ja noch keine Folge verpasst. Leider. Es ist die einzige meiner Süchte, die mein Liebesleben nicht versteht. Quasi eine Million mal schlimmer als Foie Gras zu essen. Ganz ehrlich? Ich versteh mich auch nicht. Ist es eine Feldstudie? Voyeurismus? Die Faszination von vorgelebtem Faschismus? Ich vermute sehr, sehr dunkle Abgründe. Wieso schaust du das?
Anna: Abgründe ist ein gutes Stichwort. Ich liebe Abgründe. Ich lebe quasi im Abgrund. Also in meiner Freizeit natürlich. Ich liebe Geschichten von kaputten Menschen und desaströse Horrorfilme, am liebsten solche, die das ganze abartige Geschehen mit einem schlichten Rachemotiv erklären. Wahrscheinlich ist das eine Art Ausgleich zu meinem funktionierenden Leben. GNTM erfüllt eine ähnliche Funktion. Einfach ohne Blut. Und weniger fiktiv.
Simone: Das Rachemotiv liegt hier quasi in der Selektion. Im Grunde ist es ja schon ultrabrutal: Leute schauen dich an, die Leistung, die du erbringen musst, geht gegen Null, und dann sagen sie, okay, dein Gesichtsausdruck oder deine Beine gefallen uns nicht, du bist raus. Und du ahnst, dass du noch lang mit diesem Ausdruck und diesen Beinen durch's Leben gehen wirst und dass immer irgendjemand findet: Gefällt mir nicht, genügt nicht. Wenn mir das als Teenie passiert wäre, es hätte mich direkt in die Mager- oder Drogensucht getrieben. Aber trotzdem schauen wir das.
Anna: Es ist so schön simpel, finde mal etwas Simpleres auf dieser Welt als: Ein paar Mädchen wollen Model werden. Die meisten, seit sie fünf Jahre alt sind. Die Spielregeln sind klar. Foto oder kein Foto. Diese gnadenlose Oberflächlichkeit. Und dabei fallen auch noch Sätze wie der von der quirligen Klaudia mit K. Sie weint bitterlich und sagt: «Ich will nicht anders sein. Ich will einfach nur schön sein.» Ich meine, gibt's einen tragischeren Satz, der 2018 von einem 22-jährigen Mädchen geäussert werden kann? Da fängt dann eben die Feldstudie an ... Oder?
Simone: Nein, was Tragischeres gibt's echt nicht. Und um das abzufedern, wurden in der letzten Sendung TV-Werbungen für Haushaltsgeräte aus den 60er-Jahren nachgestellt und Heidi Klum sagte: «Schön, wie sich das Frauenbild im Vergleich zu damals entwickelt hat.» Das war doch der totale Hohn!
Anna: Oh ja! Die «Back to the Future»-Ausgabe sozusagen! Verkauft wird das Ganze ja gern unter dem Label «Lebe deinen Traum». Aber dieser Traum ist ja nur da, weil es GNTM gibt. Gäbe es diese Sendung nicht, würde es auch keine Heerschar von Meeedchen geben, die diesem Model-Schönheitsideal hinterherjagt. Allerdings hätte ich auch nie Geschichte studiert, wenn es keine «Indiana Jones»-Filme gegeben hätte. Wir brauchen wieder mehr Harrison Fords! Oder will den niemand mehr sehen?
Simone: Hm, keine Ahnung, ich wollte den noch nie sehen ...
Anna: Hee! Frechheit. Dann hast du aber seinen ausgekochten, leicht schiefen Schatzmund verpasst. Schau nur! Das kriegt kein Model der Welt hin. Das Frauenbild in «Indiana Jones Temple of Doom» ist allerdings auch nicht unproblematisch. Aber an diesem schreienden Nichtsnutz hab' ich mich ja nicht automatisch orientiert, nur weil sie eine Frau war. Ich wollte einfach sein wie Indiana Jones. Was war denn, sagen wir zwischen 8 und 18, deine Orientierung in Sachen Frauenbild und Ästhetik, liebe Simone?
Simone: Leider lautet die Antwort: klassisches Ballett. Da kam schon vieles von dem zusammen, was in GNTM vorhanden ist: Konkurrenzdruck, Bodyshaming, eine Milliarde Mädchenkrisen und Neurosen, dauernd heulte eine in der Garderobe, weil sie wieder zu wenig gegessen hatte, wir trugen Spitzenschuhe statt High Heels. Einzig Kameras waren nicht dabei. Eine meiner Lehrerinnen sagte: «Denkt immer daran: Die Leute im Publikum zahlen für euren Körper.» Ich war damals etwa 12, es hat sich mir tief eingeprägt. Der Mädchenkörper in der kapitalistischen Verwertungsspirale. Ob im Ballett, im Porno, auf dem Catwalk.
Anna: Furchtbar. Zum Glück habe ich Unihockey gespielt. Ich frage mich, wo das Problem anfängt. Sagt uns GNTM: «Ich bin nur das, was ihr verdient?» So ähnlich wie das Rocco Siffredi einst über den Porno sagte: «Porno ist der Spiegel der Gesellschaft. Wenn der Porno extrem ist, ist auch die Gesellschaft extrem. Wir machen die Filme, die die Leute sehen wollen.»
Simone: Was auch immer extrem bedeutet ... Aber klar, der Rocco weiss, wovon er redet. Er hat sich da ja auch seine Sporen, ähm, sein Sperma abverdient.
Anna: In der Tat. Darum darf er auch in Rätseln sprechen. Wahrscheinlich liegt die Antwort irgendwo dazwischen. Alles beeinflusst alles. Die Gesellschaft die Medien und die Medien die Gesellschaft. Würden wir diesen Mist nicht schauen, würde es auch irgendwann nicht mehr ausgestrahlt. Hach, sind wir mitschuldig, Simone? Warum ist es so schwierig, moralisch zu verheben in dieser Welt?
Simone: Heidi würde jetzt sagen: Du denkst zu viel. Das ist ja ungefähr ihre fundamentalste Kritik. Leider ist das Leben nie einfach und klar. Es ist immer eine Zerreissprobe zwischen zwei Polen, und den Kompromiss, den wir für uns beschliessen, müssen wir dann auch aushalten. Und bekennen: Ja, wahrscheinlich sind wir mit schuld an dem Seich. Gibt es eigentlich eine richtige Moral? Oder nur ein Streben nach etwas, was wir individuell als richtig definieren? Aber sag, angenommen, du hättest eine Tochter: Würdest du sie GNTM schauen lassen?
Anna: Wenn sie das will, ja. Ich kann sie ja schlecht von dieser Welt fernhalten, sie wird früher oder später sowieso mit dem Schönheitsdruck in Berührung kommen. Ich hoffe bloss, dass ich sie bis dahin zu einem phantasievollen und neugierigen Menschen erzogen habe, dessen Träume ein bisschen mehr umfassen als einfach nur schön sein zu wollen.