Als seine Mutter starb, zog Karlheinz Weinberger vom ersten in den vierten Stock. Abgesehen davon verbrachte er sein ganzes Leben im selben Haus an der Elisabethenstrasse in Zürich. Jeden Morgen machte er sich auf in die Siemens Fabrik in Oerlikon. Ohne Ausnahme, von 1955 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986.
Doch dieses banale Leben wurde durchbrochen von seiner Passion, der Fotografie. Mit einer kleinen Agfa Schachtel, die er für fünf Franken erstand, begann er bereits in der Mittelschule mit den ersten fotografischen Experimenten.
Sein erstes Motiv war und blieb fast durchgehend der Mann und dessen Körper. Er fotografierte Bauarbeiter mit nacktem Oberkörper in den Strassen Zürichs und, später, im Süden Europas.
Das international vertriebene Schweizer Schwulenmagazin «Der Kreis» veröffentlichte viele seine Bilder. Dort publizierte er unter dem Pseudonym ‹Jim›.
1958 fand er sein erstes grosses Thema: Die Halbstarken. Damals der Gipfel des Aussenseitertums. Sie trugen sogenannte Bluejeans, die sie mit allerlei Accessoires an ihren jeweiligen Charakter anpassten und lebten wie eine Familie in ihrer Gruppe: Die erste «Untergrundszene» der Schweiz.
Manche dieser «Halbstarken» wurden zu Bikern und Karlheinz Weinberger folgte ihnen. Er begleitete sie zu ihren Touren und Camps in den Wäldern. Die Hells Angels luden ihn zu ihren Hochzeiten und sogar ihren Beerdigungen ein. Und auch diese Szene ging in Weinbergers Wohnung an der Elisabethenstrasse ein und aus. Unbehelligt von Polizei, aufdringlichen Freundinnen und Mitgliedern anderer Gangs.
Der dritte Abschnitt des fotografischen Schaffens Karlheinz Weinbergers spielte sich schliesslich ebenfalls in seinen Privaträumen ab. Er sprach auf der Strasse jüngere Männer an – Stricher und Drogenabhängige – und sie gingen mit ihm mit.
Anschliessend folgte ein aussergewöhnliches Ritual. Sie zogen sich aus, sie masturbierten, sie wuschen sich. In aller Ruhe und Ausführlichkeit. Derweil schoss KHW ein Bild nach dem anderen, es wurde geredet und Whiskey getrunken.
Diese Serie, die zwischen 1986 und seinem Tod 2006 entstand ist von einzigartiger Intensität. Das Ritual unterstreicht die Sehnsucht und das Verlangen wie auch den Verfall des menschlichen Körpers.
Karlheinz Weinberger ist es gelungen, in aller Abgeschiedenheit und Ruhe, Szenen der Schweizer Jugend festzuhalten. Beharrlich dokumentiert sein Werk die Entwicklung von Jugend- und Alternativkultur in einer Schweiz, die so nicht mehr existiert.
Heute wird sein Schaffen in Museen und Gallerien in aller Welt ausgestellt. Und sein Werk geniesst internationale Anerkennung. Irgendwo zwischen Zeitdokument und Manifest verweisen Wildbergers Bilder auf die Stärke der Fotografie, auf verewigte Geschichte und bezeugte Kultur.