Die wahre Liebe findest du heute nicht unbedingt in einer Bar oder im Laden in der Schlange hinter dir – sie kann auch ganz unverhofft auf deinem Handy und per Rechtswisch schon bald bei dir im Bett erscheinen. In diesem Sinne: Willkommen auf Tinder!
Psychologinnen und Psychologen warnen in letzter Zeit jedoch davor, dass die Online-Intimität unser Selbstvertrauen schädigen kann. «Auf Dating Apps», heisst es in einer Publikation der University of North Texas, «wirken Menschen wie Waren. Deshalb sei man auch mehr darauf bedacht, dass man das Beste kriegt».
Das Resultat: Nette Menschen, die nicht super hot sind, kriegen niemanden ab.
Zur Illustration ein kleine Szene, neulich im Tram:
Zwei Typen sitzen vor mir und quatschen über dies und das. Eines der Themen, nein, DAS Thema überhaupt: Sexdates. Der eine erzählt verzweifelt:
Der andere antwortet abgeklärt:
Falsch Swipen. Sowas ist möglich? Während der eine von seinen vielen Matches und realen Sex-Treffen erzählt, google ich die Falsch-Swipen-Theorie bereits auf meinem Smartphone.
Tatsächlich ist das Thema vom sogenannten «bewussten Swipen» Inhalt von diversen Foren-Diskussionen. Zielpublikum: Vor allem Männer, die das Gefühl haben, sie sollten es mit dem Daten doch eigentlich drauf haben – und die ausstehenden Tinder-Treffen nun kollektiv dem Tinder-Algorithmus in die Schuhe schieben.
Zusammengefasst schwirren dort vier Theorien über Tinders eigenes Lob- und Tadelsystem umher und damit also auch vier Strategien, um dem Beischlaf bringenden Code zu gefallen.
Aus diversen Selbstversuchen und teils auch aus Aussagen von Tinder-Mitarbeitern geht hervor, dass bei der Online-Dating-App jeder User eine Ranglisten-Nummer hat. Bist du also eine Sieben, zeigt dir Tinder keine Vier. Aber dafür erscheint dein Bild auch bestimmt nicht auf dem Bildschirm einer Neun. Tinder ist sozusagen eine Klassengesellschaft. Aber wie kommt es dann zu dieser Nummerierung?
Es ginge dabei nicht um Schönheit, argumentieren die Hobby-Experten in den Kommentarspalten. Tinder wolle lediglich möglichst viele Matches generieren. Deshalb die Kategorien. Klar ist die Einteilung von «Hot and Not» nicht das primäre Interesse der Kuppel-App, doch in Tat und Wahrheit passiert dann eben doch genau das.
Der Code rechnet aus, wie hoch deine Chance stehen, bei einer Person, die du gelikt hast, zu punkten. Stehen sie schlecht, wird Tinder dein Profil deinen Auserwählten gar nicht erst präsentieren.
Die Idee dahinter ist recht simpel: Würde Tinder jedem ungefiltert jeden vorsetzen, würde es nicht lange dauern, bis viele vom Angebot gelangweilt wären.
Wie kann man die Klassifizierung umgehen?
Nebst den üblichen Aufwertungstips (witzige Bios, schicke Bilder mit korrektem Filter etc.) ist die Rede vom «bewussten Swipen».
Sei man zu penibel, kommt man in die Holzklasse, zu den anderen Nicht-Matchern und zu den Selten-Gematchten. Das wären die User, bei denen es Tinder egal wäre, wie es ihnen ergeht. Hauptsache sie blieben fern von den lukrativen Usern.
Wer nun denkt, alles «durchliken» ist die richtige Strategie, liegt ebenfalls falsch. Hier ist Chance gross, dass man ein schlechtes Verhältnis zwischen Likes und Matches erhält und so schliesslich ebenfalls in die Holzklasse geleitet wird. Diesmal nicht als pingelige Diva, sondern als verzweifelter Lustbock.
Die (S)Experten sprechen von einer Like-Rate von 40-70 Prozent als geeignet, um bei Tinder den Anschein zu erwecken, man gehöre zur Upperclass.
Tinder misst alles. Wie oft du die App öffnest. Wie viel du swipest. Ob du deine Nachrichten regelmässig anschaust und deine Profildaten ab und zu updatest.
Man kann es sich denken: Auch diese Daten fliessen in dein Ranking ein. Deshalb …
… sei ein guter User! Dann ist Tinder auch gut zu dir!
Um Tinder zu zeigen, dass du zu den Super-Matchern gehörst, soll es sich angeblich lohnen, mindestens zwei Mal am Tag ein bisschen rumzuwischen.
Auch zu den Angaben, die Tinder von anderen sozialen Profilen transferiert, gibt es so einige Theorien. Meldet man sich über Facebook bei Tinder an, wird jede Seite, die mit «Gefällt mir» markiert wurde in die digitale Suche miteingeschlossen. Die Menschen, die die selben Themen auf Facebook gelikt haben wie du, werden dir – trotz anderer Klassifizierung – eher angezeigt. Zwei watson-Liker beispielsweise können so einander vorgeschlagen werden, obwohl sie nicht in derselben Liga spielen.
It's all about the Likes.
Natürlich geht es nicht darum, den Traumpartner zu finden, der die Fischstäbchen beim selben Detailhändler wie du kauft, sondern eben auch wieder nur darum, den Algorithmus auszutricksen. Mit vielen Facebook-Likes kann es einem Tinder-User gelingen, öfter aufgezeigt zu werden, was die Chance auf mehr Matches erhöht und somit wieder einen Kategorien-Aufstieg ermöglichen könnte. Jap, das ganze ist sehr perfid.
Kommen wir zur letzten und wichtigsten Theorie. Wobei es hier nicht mehr wirklich um eine Theorie geht, sondern um eine wichtige Praxis:
Wer wirklich aufsteigen will zur attraktiven und aktiven Tinder-Elite, der muss fleissig chatten.
Mit jedem Match.
Ein paar Sprechblasen, sagt man, würden dabei schon reichen, um Tinder davon zu überzeugen, dass du jemand bist, der es ernst meint mit der Liebessuche. Folglich wird dein Profil viel mehr Leuten angezeigt, was die Chance erhöhen soll, tatsächlich jemanden zu finden. Jemanden, mit dem du im richtigen Leben auf dem Sofa liegen und dich über ein anderes Thema als Online-Algorithmen unterhalten kannst.
Vielleicht hat Tinder einfach so komplizierte Algorithmen, damit alle Menschen denken: «Hey, ich brauch diese App gar nicht! Ich lass mir doch von keinem Algorithmus vorschreiben, welche Leute es Wert sind, mich kennenzulernen. Ich geh' jetzt in eine Bar, trinke sechs Kurze und gestehe dem Typen hinter dem Tresen anschliessend, dass ich ein Kind von ihm will.»
Aber wer weiss das schon so recht.