Es klopfte. Vor der Tür stand ein Mann in Gümmeler-Vollmontur. In der einen Hand sein Rennrad, in der anderen einen Brief, den er mir in die Hand drückte. «Poscht vom Schtadtpräsidänt!», sagte er. Dann schwang sich der drahtige Stadtschreiber Schlatter auf sein Velo, um auf dem Nachhauseweg nach Herblingen noch einige imaginäre Bergpreiswertungen für sich zu entscheiden. Endlich, Mann!
Wir waren ein Dutzend Leute zwischen 20 und knapp 30 und hatten im Frühling 1990 an der Fulachstrasse in Schaffhausen ein Haus besetzt. Rein, ritschratsch! Profimässig die Fenster im Erdgeschoss mit Brettern verrammelt. Bummtschak! Der Besetzeralltag lief gemächlich an, jeden Abend luden wir Gspändli von der Gasse ein. Wir spielten Pingpong und am Töggelikasten, tranken grosse Biere, drehten grosse Tüten, die Crew von der Genossenschaftsbeiz «Fass» brachte übriggebliebenes Essen vorbei, Leute kamen zu Besuch, alte und junge, die cool fanden, was wir machten. Tagsüber hängten wir auf der Terrasse in der Frühlingssonne und fühlten uns: tammiguet! Fast schon revolutionär aufgekratzt.
Nur etwas irritierte: Es gab null Reaktion der Politik und schon gar nicht der Ordnungshüter.
Diese Trägheit im Kaff, nicht zu fassen! Die stärker Politisierten unter uns besannen sich nach ein paar Tagen auf Häuserkampf-Basics:
«Instand Besetzt!» sprayten wir auf einen grossen Lappen, mit einem Kreis ums A. Eh! Ein Mitsquatter und heutiger «Milk and Wodka»-Comicer steuerte das passende Banner mit Totenköpfen bei, all das flatterte alsbald an der Fassade gegen den provinziellen Mief an.
Als danach immer noch nichts passierte, wurde es uns zu blöd.
Wir schrieben dem Stadtpräsi ein Telegramm:
Bamm! Bamm! Bis es klopfte und der Stadtschreiber Schlatter uns via Brief zum Treffen mit einer offiziellen Verhandlungsdelegation einlud. Wir bestimmten, wo das über die Bühne zu gehen hatte, und wählten das «Fass»-Sitzungszimmer. «Die Stadt» musste sich in die Alternativchnelle bemühen. Yes, Sir! Sie kamen zu dritt. Der «Milk and Wodka»-Comicer gehörte mit zu unserer Delegation. Er hatte – technologisch für damals weit draussen – einen Walkman dabei, mit dem man auch aufnehmen konnte. Und genau das tat er. Er hatte das Gerät in der Innentasche seiner Lederjacke geschoppt und schnitt unsere Verhandlungen mit. Wieso, weiss ich nicht mehr so genau.
Länglichen Referierens kurzer Sinn war, dass halt leider nicht gehe, was wir machten: In just dieser Liegenschaft sollten Asylsuchende unterkommen, dummer Zufall, kannmannixmachen. Es leierte. Leierte tatsächlich, ein hoher Ton, ein Quietschen in der Luft. Was war das? Die Stadtdelegation begann, sich umzuschauen. Unser Comicer zog darauf son bisschen die Schultern ein und murmelte nach einer endlosen Weile: «Sorry, ich mo moll ufs Klo.»
Das Leiern und Quietschen kam eindeutig aus seinem Innern: Der Walkman konnte zwar aufnehmen, aber wenn die Kassettenseite voll war, stellte das Teil nicht ab, sondern: quietsch!
Wir mussten raus aus dem besetzten Haus.
Und als wohlerzogene provinzielle Postpunks, HC-Hippies und Garagenrocker gingen wir. Allerdings nicht ganz im Sinn der Stadtoberen: Wir hatten nur 200 Meter entfernt eine noch viel geilere leerstehende Hütte in einem der bevorzugten Schaffhauser Wohnquartiere, auf dem Emmersberg, entdeckt und nahmen sie in einer klassischen Nacht-und-Nebel-Aktion in Beschlag.
Während wir uns noch schlapplachten über unseren cleveren Move, latschte am nächsten Morgen die Polizei in unser neues Heim. Frische Gipfeli hatten sie nicht dabei. Dafür rote Köpfe: Der Scheffpolizist Brigger sah aus wie ein Züriberg-Schönheitschirurg, aber bei seinen eigenen Stirnfalten angesichts der Besetzerhorde hätte auch eine Familienpackung Botox nicht gereicht. Er war: not amused, redete von den üblichen «feuerpolizeilichen Bedenken» und stellte uns ein Ultimatum. Schliesslich landeten wir, ein halbdreckiges Dutzend KleinstadtrevoluzzerInnen, in einer leerstehenden Haushälfte mit drei Dreizimmerwohnungen, die uns die Stadt als Zwischenlösung für ein Jahr andrehte.
In der «E79» gab es keine Heizung (mehr), nur kaltes Wasser, dafür prächtige Champignonkulturen an Wänden und in Balken. Wir nisteten uns – oft zu zweit – in den Zimmern ein, manche bastelten Hochbetten, andere brachen Decken heraus. Deda baute eins der ehemaligen Badezimmer über ein Jahr lang zu einem wahren Wohngesamtkunstwerk um und war fast fertig, als wir wieder ausziehen mussten.
Vor dem Haus gabs einen Garten, da hängten wir «arbeitsscheuen Asozialen» (local press) in der Frühling- und Sommersonne und mischten dezent die allg. Wohnquartieridylle auf.
Einmal fuhr ein Motorrad vorbei, und jemand schmiss einen faustgrossen Stein in unsere Richtung, umwickelt mit einem Blatt Papier, darauf stand: «Haut ab!»
Politik und Presse schossen sich auch ein bisschen auf uns ein, aber in der Prä-Social-Media-Ära blieb alles provinziell und also harmlos.
Die Gesetze der Physik spielten: Die beengten Verhältnisse beim Zusammenwohnen führten zu Druck. Ein Ventil waren die vielen Bands, in denen fast alle spielten. Es gab illegale Kellerkonzerte, Partys und allerhand Allotria, Tonträger und Fanzines entstanden, man probierte, bastelte, wich kaum einer Bieridee aus: Als Gast der Combo Nevertscheks (sic!) schaufelte ich an einer Silvestersause im Skelettkostüm grosse Mengen Konfetti in ein Publikum, das sich wie Bolle amüsierte – in dieser Nacht spielten gleich neun Bands aus unserem Squatter-Umfeld.
Der Druck und die Beengung führten aber auch zu persönlichen Dramen, Trennungen, gebrochenen Herzen und Knochen, manche waren ein ganzes Jahr kaum je unbekifft.
Apropos: Hinter dem Haus hatte es einen Gartenblätz, dort wurde das grünere Gras angebaut und gedieh gar prächtig. Eines Morgens platzte Andy herein in die Runde kaffeetrinkender Eben-erst-Erwachender.
Niemand von uns hatte. Dafür fiel auf, dass Claude auf der Gasse vor dem Domino zwei Abende später aus riesigen Säcken Weed vertickte. Die «E79» war immer auch eine Anlaufstelle für Streuner, Asis und RumtreiberInnen, und er war einer davon (gewesen).
Die allermeisten BesucherInnen waren allerdings nett – oder zumindest nette Nervensägen. Wie Erich, der, als es Herbst und kälter wurde, mit seinem Citroën-Kastenwagen jede Nacht kurz vor 12 vorfuhr. Der energische Verfechter einer Instinkt-Ernährung ohne Erhitzen der Speisen («Kochen tötet») schlich oft in unsere Küche, lupfte die Topfdeckel und wärmte sich einen Rest Spaghetti mit Sugo auf. «Jo, ich sündige wider», grinste er essend.
Erich kam auch am Morgen. Mit rohem Fisch – der bereits streng roch und den er «zum Probieren» auf den Tisch legte –schaffte er es locker, den einen oder anderen toughen Besetzer mit seinem Zmorgemüesli in die Flucht zu schlagen.
Glorreich war die Idee, eine Videonacht in unserer guten Stube zu veranstalten. Das zu diesem Zweck selbstfabrizierte Popcorn füllte etliche 110-Liter-Abfallsäcke, zur Erweiterung der Spasszone ass man die kleinen Pilze, die eine Delegation bei einem Ausflug im Jura bei frischen Kuhfladen gefunden hatte. Am Morgen danach sah's entsprechend aus, als wäre eine Rinderherde stampedemässig durch unser Wohnzimmer galoppiert.
Der Winter wurde hart.
Aus Baumulden fischten wir alte Kanonenöfen, ein paar kriegten wir von einem sympathisierenden Handwerker geschenkt, wir installierten die Dinger und heizten uns mit Holz und Kohle durch die kalte Jahreszeit. Im nächsten Frühling zog ich in eine kleine Luke unterm Dach, dort hatte gerade mal das Bett Platz, stehen konnte man nicht, schlafen ging aber prima.
Die Leute verteilten sich. Ich zog in eine Wohnung in einem alten Haus, mit etlichen befreundeten Nachbarn, und genoss es auch, einfach mal die Tür hinter mir zumachen zu können. Wir waren dabei eine von gerade mal drei Häuserbesetzungen in Schaffhausen. Der Wohnungsmarkt meint es seither ja nicht wirklich netter mit Leuten, die mit wenig Geld durchs Leben kommen wollen und sich dabei auch unorthodoxere Formen des Zusammenlebens vorstellen können.
Auch im Kaff arbeiten Standortmarketing, Immobilienbüros und ein wenig hinterfragter Trend zur «Aufwertung» an der Zerstörung der Grundlagen solcher Existenzen. Wohnen ist schweineteuer. Die Nischen verschwinden, und es wird gebaut, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht gibt es unter anderem gerade darum auch keins, das sich lohnen würde ...
Heute arbeiten die ehemaligen «E79»-BesetzerInnen als Pflegefachfrau, Comicer, Telefoninstallateur, Desktopperin, Uni-Administrator, Sozialarbeiter, einer führt ein Guesthouse in Kambodscha, eine wurde Burg-Schauspielerin, einer wirtet in einer Ausflugsbeiz im Solothurner Jura und bauert gleichzeitig, einige sind politisch aktiv, einige spielen immer noch in Bands.
Meinereiner verdient seine Brötchen als Korrektor, schreibt ab und zu und macht Musik. Manchmal hat die Geschichte ironische Wendungen in der Hinterhand: Während ich gerade an diesem Text übers Häuserbesetzen im Kaff schrieb, wurde meiner Partnerin und mir unsere Wohnung gekündigt: Eigenbedarf. Aber ja: Live is Life, wussten schon Opus.