Als erstes vorneweg: Ja, auch Oma ist grossartig. Sie füllt deinen Bauch mit dem besten Gericht auf Erden und eliminiert damit jegliche Neujahresvorsätze und jagt deine Weight-Watchers-Punkte in die Höhe. Sie kann deine Eltern in Verlegenheit bringen und dir klarmachen, dass diese keine souveränen Übermenschen, sondern auch nur die Kinder ihrer eigenen Eltern sind. Ja, das Grosi verdient alle Schwärmereien, die es bereits über sie gibt.
Dieser Beitrag soll sich aber der oft etwas stilleren Entität hinter der lebhaften Oma widmen: dem Opa. Wie komme ich zum Thema? Auf meiner Reise an der australischen Ostküste habe ich zwei Begegnungen mit grossväterlichen Figuren gemacht.
Der Wentworth-Park nahe dem Hostel in Sydney hat eine Outdoor-Fitnessanlage. Um etwas Geld zu sparen, geh ich da hin. Nach einer Weile fällt mir ein älterer Herr im Fussballtrikot auf, geschätzt Ende Siebzig. Er kickt alleine einen Ball vor sich hin und rennt ihm nach.
Nachdem ich mit meinem Programm durch bin, lauf ich auf ihn zu und fordere mit erhobener Hand nach dem Ball. Er spielt ihn mir zu. Wir passen, flanken und jonglieren hin und her ohne ein einziges Wort zu wechseln. Ich male mir seine Geschichte aus. Vielleicht hat er mal in einem Verein gespielt. Vielleicht war er gar ein australischer Profi. Möglicherweise braucht er den Sport aber einfach als Ventil, oder möchte eine Pause von der Familie. Nach über einer halben Stunde des wortlosen Ballwechsels unterbricht er unser Spiel:
Ich bin insgeheim froh, denn im Gegensatz zum alten Mann, bin ich komplett aus der Puste. Es stellt sich heraus, dass er gar kein Australier ist. Er ist von New Jersey, USA hierhergezogen, um seinem Sohn mit dem Enkel zu helfen. Der sei jetzt drei, ein niedlicher Junge. Er hüte ihn zwei Tage die Woche.
Bei dem Gespräch fällt mir eine typische Opa-Charakteristik auf: Obwohl er sicher viel von sich zu berichten hätte, spricht er nur über sich selbst, wenn ich ihn spezifisch danach frage. Von seinem Sohn und Enkel aber erzählt er unaufgefordert voller Stolz.
Auf meiner Reise nordwärts besuche ich in Newcastle spontan das Fort Scratchley. Es wurde 1882 gebaut, um die Handelsstadt vor allfälligen russischen Angriffen zu schützen, kam aber erst während dem zweiten Weltkrieg ernsthaft zum Einsatz. Heute ist es ein Museum und wird von Historik-Enthusiasten auf freiwilliger Basis gepflegt.
Einer davon macht gerade eine Pause vom Heckenschneiden, als ich mir eine Infotafel anschaue. Er beginnt, den genauen Hergang des Angriffs eines japanischen U-Boots anno 1942 zu schildern. Danach erzählt er mir, wie sein Lieblingswein von Europa ins nahegelegene Hunter-Valley kam. Dazwischen zeigt er auf Glattwale (Right Whales), die nahe der Küste nach Luft schnappen, und erklärt mir deren Namensherkunft. (Fischer gaben ihm den Namen, da er aufgrund der vergleichsweise langsamen Fortbewegung der richtige Wal «right whale» zum Jagen war).
Sein Kollege stösst nach kurzer Zeit dazu. Die Beine und Hände sind von den Sträuchern blutig gekratzt, doch der liebenswerte Bär hat ein strahlendes Lächeln im Gesicht und steigt mit seinen Anekdoten in härtestem australischen Akzent ins Gespräch ein.
Ihr Enthusiasmus lässt mich eine zweite Opa-Eigenschaft erkennen: Die Fähigkeit aus allem, auch blanken Fakten, eine spannende Geschichte formen zu können.
Und das bringt mich schlussendlich zu meinen Opas.
Der eine Opa, der Grosspapi, ist sicherlich älter als unser Fussballer in Sydney, jedoch erstaunlich fit. Mit stolzen 91 wohnt er noch in seinem eigenen Haus und erledigt das meiste selbst. Bis vor kurzem ging er noch auf Weltreisen.
Als ich ihn vor der Australienreise besuchte, erzählte er meinem Bruder und mir, wie sehr er sich beim Einkaufen über «diese Alten» aufregt, die erst an der Kasse ihr Geld rauskramen. Er selbst rechne fortlaufend zusammen, wie viel es kosten würde und bereite an der Kasse dann das nötige Kleingeld vor.
Das war ein amüsanter Gedanke, wenn man bedenkt, dass «diese Alten» wahrscheinlich ein gutes Stück jünger sind. Ich wünsche mir, mich in seinem Alter auch noch so aufregen zu können.
Die Erinnerung an den anderen Opa, das Grossvätterli, verbindet gleich beide meiner Begegnungen in einem: Er war ein Sportfanatiker und Geschichtenerzähler. Auch im hohen Alter spielte er mit mir und meinen Geschwistern im Garten Fussball, wobei er mit seinem Stock das Tor verteidigen musste. Wann immer er uns hütete, war der Fernseher wegen Tennis oder Formel 1 besetzt.
Mein Bruder und ich warteten dann bis er eingeschlafen war, um die Fernbedienung zu stehlen und Horrorfilme zu schauen.
Wenn er nicht vor dem Fernseher einschlief, brachte er uns zu Bett. Nicht aber ohne die obligatorische Gute-Nacht-Geschichte. Nun, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er uns je aus einem Buch vorgelesen hatte. Meist hatte er es einfach auf dem Schoss und erfand die Geschichten spontan selbst. Der häufigste Protagonist darin: «Der Gorilla Blauarsch».
Aus dem mittlerweile wahrscheinlich ausgestorbenen Kraftausdruck machte er kurzerhand eine Fantasiefigur, deren Abenteuer uns regelmässig in den Schlaf wogen. Die Geschichte war jeweils so gut, dass wir sie beim nächsten Mal unbedingt wieder hören wollte. Da Opa sich aber nicht mehr erinnern konnte, was er zuletzt genau erzählt hatte, gab’s dann eben eine neue, die mindestens so gut war.
Ich hätte gerne jetzt als Erwachsener nochmals mit ihm geplaudert. Ich bin mir sicher, er hätte ein paar spannende Geschichten ohne Jugendfreigabe aus frühen Tagen gehabt. Doch egal, wie sein Sündenregister wohl ausgesehen hat, vorbei an Petrus kam er bestimmt – mit seinem Charme und Mundwerk und seinen brillanten Geschichten.
Grossvaterfiguren sind gute Geschichtenerzähler – ob erlebt, erfunden oder eine Mischung aus beidem. Ich werde versuchen, in Zukunft besser hinzuhören.