Die zunehmende Digitalisierung stellt den Alltag auf den Kopf und erobert jeden Lebensbereich. – Jeden Lebensbereich? Nein! Auch 2017 kann die digitale Konkurrenz Spielen aus Karton und unbeugsamen Holzfigürchen nichts anhaben. Im Gegenteil. Für Spiele gilt: Print boomt. Weltweit.
Zum Beispiel in Kanada: Ähnlich wie man sich zum Kino oder ins Konzert verabredet, ist es in kanadischen Städten alltäglich und modern, sich im Ausgang in einem Spielecafé zu treffen. Dort gibt es nicht nur Menu-Karten fürs Essen und Trinken, sondern auch für Spiele. Diese werden den Gästen auf Wunsch von sogenannten «Game-Gurus »am Tisch erklärt.
Das erste kanadische Spielecafé «Snakes and Lattes» eröffnete 2010 in Toronto und begründete einen neuen Freizeittrend. Inzwischen gibt es landesweit über 40 solcher Lokale. Allein auf der Event-Seite von Toronto sind elf Spiele-Cafés und neun Bars mit Brettspiel-Angebot verzeichnet. Viele der erwachsenen Gäste sind als Kinder nie mit Brettspielen in Berührung gekommen und haben sie erst als Studenten wieder entdeckt.
Anders als im deutschsprachigen Raum waren analoge Spiele in Nordamerika jahrelang aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden. Die zunehmende Digitalisierung des Alltags hat aber in vielen Menschen das Bedürfnis und die Lust auf direkte Kommunikation wieder gestärkt. Und zudem sind moderne Brettspiele in den letzten Jahren halt ganz einfach auch immer besser geworden.
Die Entwicklung von nicht-digitalen Spielen hat in den letzten 40 Jahren riesige Schritte gemacht. Deutschland gilt als Ursprung des weltweiten Booms. Mit seiner lebendigen Verlags-, Autoren- und Messeszene nimmt das Land für den Bereich nicht-digitaler Spiele eine vergleichbar wichtige Stellung ein, wie Hollywood für den Film. Die weltweit wichtigste Messe für analoge Spiele in Essen, wo im Oktober wieder rund 1200 Neuheiten vorgestellt werden, zieht mehr als 170'000 Besucher an.
In den letzten Jahren ist der Trend von Deutschland, wo Titel wie «Catan» seit den 1990-er Jahren den Massenmarkt prägen und einen neuen Qualitätsstandard für Brettspiele gesetzt haben, mit 20-jähriger Verspätung nach Nordamerika gedrungen und breitet sich dort aus.
Die jährlichen Umsatzzuwächse nichtdigitaler Spiele liegen in den USA und Kanada seit 2010 laut dem «Guardian» und Branchenquellen konstant bei 20 bis 40 Prozent. Dazu haben auch Medien Stars wie der aus «Star Trek» oder «Big Bang Theory» bekannte Will Wheaton beigetragen. Wenn er mit seinen Promi-Kollegen in der Internet-TV-Sendung «Table Top» neue Brettspiele ausprobiert, schauen Hunderttausende zu.
Die zweitgrösste amerikanische Discounter-Kette «Target» hat aufgrund der Nachfrage grosse Brettspiel-Abteilungen eingerichtet, bei denen englischsprachige Versionen deutscher Titel stark vertreten sind. Im Juni 2016 hat der führende deutsche Spielehersteller, die Kartonage-Fabrik Ludo Fact, die im Auftrag von 200 Verlagen jährlich über 17 Millionen Spiele produziert, in Lafayette einen amerikanischen Produktionsstandort eröffnet. Und fast ein Viertel des Umsatzes auf Kickstarter läuft inzwischen über Brettspiele – und ist damit der wichtigste Wachstumsmotor der Plattform.
Journalisten haben bei der Entwicklung des Trends in Deutschland eine massgebende Rolle gespielt. Bereits in den 1960-er Jahren waren einige der Meinung, dass Spiele – ähnlich wie Bücher, Filme oder Musik – ein Teil von Kultur und Kulturkritik sind. In deutschsprachigen Tageszeitungen entstanden Spiele-Kolumnen. 1978 gründeten Spielekritiker die Jury «Spiel des Jahres» mit dem Ziel, «die Verbreitung des Spiels als Kulturgut in Familie und Gesellschaft zu fördern.» Die von dieser Kritiker-Jury verliehenen Preise gelten weltweit als Oscar für Brettspiele. Wird ein Spiel ausgezeichnet, explodiert die Auflage.
Videospiele haben Brettspiele nicht gekillt. Das Gegenteil ist der Fall. Digitale und nicht-digitale Spiele sind keine Konkurrenten, sondern befruchten sich gegenseitig. Computerspiele können das unmittelbare soziale Erlebnis und die direkte Interaktion von Brettspielen nicht ersetzen. Und es zeigt sich, dass in einem zunehmend digitalisierten und «verbildschirmten» Alltag schlichtweg das Bedürfnis steigt, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und miteinander zu lachen.
Schon seit Jahren ist aus der Hirnforschung bekannt, dass gemeinsames Spielen Denkprozesse trainiert, soziales Alltagsverhalten fördert und auch die Auswirkungen von Demenz mindern kann. Im letzten Jahr hat der Hirnforscher Gerald Hüther zusammen mit dem Philosophen Christoph Quarch unter dem Titel «Rettet das Spiel!» ein wichtiges Buch veröffentlicht. Den beiden Autoren bereitet Sorge, dass die zunehmende Ökonomisierung und Funktionalisierung des Lebens die Freiräume immer mehr einschränkt, die der Mensch für seine Entwicklung benötigt.
Im Vorwort zum Buch steht:
Tom Felber ist der Vorsitzende der internationalen Kritiker-Jury «Spiel des Jahres» und veröffentlicht seit 1985 Spiele-Rezensionen in verschiedenen Medien. Fortan wird er hier auf watson für uns regelmässig neue Brett- und Kartenspiele vorstellen.
Als Jurymitglied ist er verpflichtet, sämtliche relevanten neuen Spiele mehrfach auszuprobieren. Dazu benötigt er natürlich auch immer wieder neue Mitspieler. Wer Lust hat, mitzuspielen, kann sich über spieleabende@bluewin.ch für seinen Newsletter anmelden. Die Spiele-Testrunden finden jeweils in Zürich statt.