Die 80er haben uns Lederjacken geschenkt. Die 90er das Tamagotschi. Und damals in den 80ern, da gab's die Jugendrevolten und in den 90ern den exzessiven Techno. Und Lava Lampen!
Wir haben ein Bild vor Augen, wenn wir an die Dekaden denken, die 20, 30, 40 Jahre zurückliegen. Aber haben wir das auch von der letzten? Von den sogenannten Nullerjahren?
Es scheint, als ob kollektive Nostalgie erst dann einsetzt, wenn das Populäre die Übergangsphase des peinlichen Belächelns durchgestanden hat und bereits schon wieder im Startkabäuschen des parodistischen Revivals hockt.
Niemand trägt Schweissbändchen ums Handgelenk mit derselben Beiläufigkeit wie RayBan-Brillen auf unseren Nasen sitzen. Die 2000er sind nicht Kult. Sie sind Trash. Und zwar nicht die Sorte Trash, über die gelacht werden kann, sondern die Art von Trash, für die man sich schämt: Also eigentlich Garbage.
Und in diesem Morast billigster Popkultur bin ich und meine Generation aufgewachsen. Seit sieben Jahren versuche ich herauszufinden, was ich und meine Zeitgenossen in unseren Mittlebenskrisen hervorkramen können, um unser nostalgisches Begehren zu stillen. Anekdoten, Styles und Manien – von denen wir dann mit Stolz sagen sagen können: «Ja, so haben wir das damals gemacht. War eigentlich noch cool.»
(Vermutlich würden wir in unserer Midlifecrisis dann eher «lit» sagen, um noch ein bisschen jünger zu klingen.)
Nähern wir uns dieser Frage doch mal ganz systematisch. In Sitzungsform. Mit Traktanden. Und verschiedenen Kategorien.
Los geht's.
Die 2000er sind die letzte Ära, in der Influencer noch etwas können mussten, um die Masse zu beeinflussen. Wobei können relativ zu verstehen ist. Ich denke zum Beispiel an Paris Hilton. Die kann nicht, die ist. Oder war – eine der grössten Ikonen des Mainstreams dieser Zeit. Begleitet wurde sie von einer Armada von Popsternchen, die von Marketing-Agenturen oder Castingshows zu Vorbildern haltloser Jugendlicher hergerichtet wurden.
Im deutschsprachigen Raum waren das zum Beispiel diese zwei hier …
Es ist ja schon so, dass der Emo-Style ein Ding der 2000er ist. Jedenfalls trat er erst da im grossen Stile auf. Aber wir müssen auch ehrlich sein und erwähnen, dass der Emo (und bekennender Tokio-Hotel-Fan) nicht wirklich zu den beliebtesten Persönlichkeiten auf dem Schulhof gehörte …
Womit wir bei der Mode angekommen sind. Wie ihr merkt, wollen wir im Rahmen dieser Sitzung nicht über den mutmasslichen Underground der 00er sprechen. Auch nicht über den Style der frühen 00er, der sich noch immer am Rockzipfel der 90er festhielt, und mittlerweile schon fast wieder retroisiert wird.
Nein, nein, nein, das lassen wir heute beiseite. Unsere Gesprächsrunde widmet sich den richtig fiesen und dunklen Jahren des Popkultur-Mainstreams dieses jungen Jahrtausends. Es geht um die Jahre 2005 bis 2009.
Cardigans, Leute, Caaardiigaans! Jeder, der mir verklickern will, dass die 2000er schon noch cool waren; dass man damals auch fancy Shit wie Plateauschuhe und transparente Miniröcke trug, der ignoriert Tatsachen. Tatsachen wie die Lebensrealität von Julia, 14, aus Niederuzwil. Sie trug keine transparente Japan-Mode. Sie trug Cardigans. Aus dem Clockhouse. Und unifarbene T-Shirts darunter. Und ab Mitte November, als es allmählich zu kalt für die Strickjäckchen wurde, die so ein bisschen elegant, aber eben immer noch genug alltäglich ausschauten, fing Julia an, Pullis zu tragen. Von Zimtstern.
Ihr fragt euch, wieso ich das weiss? Ich weiss das alles, weil ich Julia, 14, aus Niederuzwil bin. Oder war. Und eine ganz gewagte und total crazy Freundin namens Angelika hatte. Die trug Leggins mit Floralprint. Sie war voll der Hippie.
Was damals aus den Kopfhörern der ersten iPods ertönte, war im Gegensatz zu Angelikas Leggins tatsächlich aussergewöhnlich. Aussergewöhnlich schlecht. Anstatt den mehr oder weniger erträglich bis recht unterhaltsamen Rap von Eminem und den Pop von Britney einfach als das momentan populäre hinzunehmen, entschieden sich deutschsprachige Medien nämlich, das Ganze zu kopieren. Einfach in blöder. Und im schlimmsten Fall in Mundart.
Danke an dieser Stelle für den Aufmarsch von Bushido, Sido, Carmen Fenk, Salomé Klausen und Bernadette Höhn.
Klar, die 00er-Jahre brachten unseren Ohren auch Entzückungen, wie zum Beispiel die von Nikotin und anderen Substanzen geplagte Stimme von Amy Winehouse. Aber irgendwie zählt das nicht so richtig, denn Winehouse ging «back to black» und somit zu irgendetwas, das schon mal war. Wiedergeburten gelten nicht. Nur die Neugeburten. Und die kamen zu dieser Zeit aus zwei grössenwahnsinnigen medialen Gebärmüttern: Youtube und Disney.
Youtube schenkte uns Jöstin. Aber der trug schliesslich auch Cardigans. Und aus Disneys Uterus flutschte Miley Cyrus, die zunächst aber noch dem Narrativ eines hohlen Mädchens folgte, das so gerne Popstar wäre, aber doch auch ein normales Leben führen will. Die Betroffenen erinnern sich an die ganze Hannah-Montana-Scheisse.
Was die 00er-Jahre unseren Heimstätten angetan haben, hat Patty Boser – auch bekannt als die Oprah Winfrey der Schweiz (wieder eine schlechte Kopie) – in ihrer Sendung «Lifestyle» liebevoll dokumentiert.
Da steht sie jeweils 21 Minuten in den Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen von Cervelat-Promis und liefert den Beweis, dass Anthrazit gerade DIE Farbe ist, wenn man sein Bad neu fliessen will und dass alles doch am besten eh immer «schlicht» sein soll, wobei ein Tick «Extravaganz» aber doch nie schaden kann, so Boser. Ständig.
Drei Jahre bevor das Jahrzehnt zu Ende war, zog das grösste Möbelhaus der Welt bereits Bilanz: Es war das Jahr 2007, als Ikea alles, was die 2000er auf ästhetischer Ebene zu bieten hatten, in vier Pressholz-Latten packte.
Schlicht. Und unauffällig. So bezeichnen die meisten wohl ihr Expedit-Regal, in dem sie zuhause ihre alten Reclam-Büchlein eingereiht haben und in massgerechten Stoffkisten ihre Unterwäsche parkieren.
Schlicht – das ist wohl auch das beste Wort, um die Ästhetik der Nullerjahre zu umschreiben. Sofern man höflich bleiben will. Man kann aber auch sagen, dass die Ästhetik der Nullerjahre so mittelmässig war, dass sie beim Vergraben in eben diesen Punkt, der sich Mitte nennt, so weit ging, dass sie jegliche Form von Substanz verloren hat. Ein mickriger Punkt auf der nackten Leinwand eines neuen Jahrtausends.
Wenn man das sagt, ist man nicht mehr so höflich. Doch Höflichkeit hat dieses Jahrzehnt – reduziert man es, wie hier, auf Popkultur – auch nicht verdient. Wieso auch? Die Kulturgüter, die es hervorgebracht hat, tun an für sich schon genug höflich. Ich denke an den ganzen entschleunigten Comfort-Lifestyle, wie beispielsweise …
… oder an …
Die 2000er sind die Siegesdekade der Yuppie-Kultur. Alles hat darin Platz, solange es in einen der normierten Hohlräume eines Expedit-Mobiliars reinpasst.
Es ist selbsterklärend, dass die Sitzung entscheidet, froh darüber zu sein, dass Ikea das Expedit Regal 2011 aus dem Sortiment strich und dass sowohl Justin Bieber wie auch Miley Cyrus nun tätowiert sind und in aller Öffentlichkeit ihrem Marjuana-Konsum frönen. Lieber ein Revival von Snapchat als die Retroisierung von Cardigans!
Anmerkung des Aktuars:
In diesem Protokoll fehlt die Stimme von Florallegins tragenden Angelika, sowie jegliche andere Meinungen, ausser die des Redakteurs.