Saudi-Arabien gilt als das konservativste Land der Welt. Da gibt es viel Potential, worüber sich die westliche Welt echauffieren kann. Dinge, die hier scheinbar selbstverständlich sind, werden dort mit Füssen getreten. Aktuelles Beispiel: Kleidernormen.
Es ist 2017 und im Land am Persischen Golf empört sich die Sittenpolizei über eine Frau, die in Top und Minirock durch die Gassen eines Städtchens schlendert. Das wiederum empört die westliche Digitalwelt. Eine «Hier und dort»-Kluft der Kulturen reisst auf.
Doch auch die libertäre Haltung, der wir uns im Westen verschreiben, kennt zum einen ihre Grenzen und ist zum anderen ein junges Phänomen, das sich seine Selbstverständlichkeit hart erkämpfen musste.
Seit die Frauen zum ersten Mal Hosen trugen, wurde die Mode zeitweise immer wieder zum politischen Instrument der Frauenbewegung. Von der Hose zurück zum Zweiteiler und schliesslich zum immer kürzer werdenden Rock. Was sich hier wie ein Kindervers anhört, war in der Tat ein harter Ringkampf um Selbstbestimmung. Und niemals auf Anhieb eine Selbstverständlichkeit.
Als erster Schritt der kleidsamen Revolution musste das Korsett weg. Coco Chanel war eine der ersten Modeschöpferinnen, die die Torsi der Frauen von jenen eng geschnürten Zwangsjacken befreite. Die kratzigen Korsett-Schnüre ersetzt sie durch leichten, elastischen Jersey-Stoff. Endlich können Frauen atmen, Sport treiben, arbeiten. Und vor allem: Grenzen überschreiten. Was im Endeffekt den Graus des Patriarchats – sprich, den Graus der damaligen Mehrheitsgesellschaft – darstellte.
Sich zu grausen lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber nicht wirklich drin. Der Erste Weltkrieg brach aus und die Todesangst überstieg die Furcht vor einer weiblichen Emanzipation – logischerweise. So trugen Frauen während des Krieges «sogar» Hosen, um die Arbeit, die sie stellvertretend für die Männer verrichteten, zuverlässig zu bewerkstelligen.
Der Erste Weltkrieg hinterliess Schreckliches: Zehn Millionen Tote, 21 Millionen Verletzte und acht Millionen Vermisste. Und dennoch brachte er der weiblichen Identität ein neues, optimistisches Selbstverständnis. Eines, das massgebend zu dessen Emanzipation beitrug. Zumindest mittelfristig.
Mittelfristig, das heisst bis zum 24. Oktober 1929, als die Weltwirtschaft zusammenbrach und sich die ersten Züge eines weiteren Weltkrieges bemerkbar machten.
Zwar übernahmen Frauen auch während des Zweiten Weltkriegs die Aufgaben der Männer während ihrer Abwesenheit. Und wieder verlangte der Krieg zahlreiche Opfer. Dieses Mal gehört aber auch die Emanzipationsbewegung dazu.
Viele Frauen mussten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Arbeitsstellen, die sie von den in den Krieg gezogenen Männern übernommen haben, wieder räumen. Ihren Platz sah man(n) in der Kindererziehung und der Haushaltsarbeit. Falls sie doch arbeiteten, wurden sie hauptsächlich mit Hilfsstellen oder Jobs im Sozialbereich abgespeist.
Bis in die 60er-Jahre war an dieser Stellung nicht viel zu rütteln. Das Kleid sass eng um die Hüften geschmiegt, und die Form des Büstenhalters endete in einer unnatürlichen Spitze. Die Frau war das dekorative Sextoy des Mannes. Aber auf biedere Art und Weise.
Denn alles, was zu viel Haut durchscheinen liess, oder in irgendeiner Form Komfort oder gar Selbstbestimmung für die Frau bedeutete, war verpönt. So zum Beispiel der Bikini.
Schon der Fakt, dass das Model, das den ersten Bikini in Paris vorführte, eine Nackttänzerin war, weil sich keine andere Frau auf solch obszöne Weise in der Öffentlichkeit zeigen wollte, ist sehr bezeichnend für jene Ära.
Das «anrüchige» Badekleid war nach seiner Einführung an Stränden und öffentlichen Plätzen an der französischen Atlantikküste, in Spanien, Italien, Portugal, Australien und einer Reihe von US-Bundesstaaten verboten. Die Trägerinnen des Bikinis konnten von der Justiz bestraft werden. Sitten-Polizei, ahoi!
Rock 'n' Roll, Hippies und die zunehmende Erholung vom Krieg läuteten die 60er-Jahre mit einem frischen Groove ein. Der Grundtenor jener Melodie tönte eindeutig nach Fortschritt und somit auch nach einer neuen Chance für den Kampf um weibliche Selbstbestimmung. Die Revolution, die in diesem Zuge eingeläutet wurde, endete zehn Zentimeter über dem Knie und machte jeden Spiessbürger zum Sittenpolizisten: der Minirock.
Die Erfinderin des Minirocks war die britische Schneiderin Mary Quant, die zeitlebens eigentlich niemals einen Skandal hervorrufen wollte. Sie trug ihren Rock kurz, weil das einfach angenehmer war, um auf den Bus zu rennen. Doch laut ihrer Aussage ist nicht sie, sondern «das Mädchen aus der Kings' Road», die wahre Erfinderin. Jene junge Frau stand im Geschäft der Schneiderin an der Londoner Kings' Road und wünschte eine Änderung an ihrer Garderobe. Sie hätte gerne dieselbe Rocklänge wie die Schneiderin selbst. Einfach nochmals ein Stück kürzer. «Und noch ein Stück, ja bis übers Knie», verlangte die zielstrebige Frau und inspirierte Quant bereits 1955, eine Mini-Kollektion zu produzieren.
Es dauerte sieben Jahre, bis es das «vulgäre» Kleidungsstück in die deutsche «Vogue» brachte. Drei weitere Jahre, bis der Minirock zum weltweiten Verkaufsschlager avancierte, und nochmals fünf Jahre, bis man in der Schweiz mit dem Minirock Zugang zu jedweder öffentlichen Örtlichkeit erhielt.
So war – auch in der Schweiz – noch bis in die frühen 70er hinein Frauen, die Minis trugen, der Eintritt zu Zoos, Hotels und Kirchen verboten. In vielen weiteren Räumen, wie in bestimmten Restaurants, auf Ämtern und Gerichten, war das Tragen zwar nicht verboten, wurde aber mit Häme und vorwurfsvollem Blick missbilligt. Miniröcke galten bei vielen Leuten als Symbol einer zunehmenden Respektlosigkeit.
Auf den Erfolg des Minis kam der «Mini-Mini» und gleich danach der «Mikro-Rock», die der bürgerlichen Bestimmungshoheit über den weiblichen Körper (in der Öffentlichkeit) den endgültigen Knockout verpassten.
Heute profiliert sich der Westen als die «freie Welt». Viele Stimmen aus Politik und Wissenschaft behaupten jedoch, dass in ebendieser freien Welt der weibliche (aber auch der männliche) Körper – und damit auch die Art, wie er auszusehen hat und gekleidet werden soll – immer noch unterdrückt wird. Verantwortlich dafür seien nicht mehr traditionelle Wertvorstellungen, sondern Diktate der Wirtschaftsbranchen. Unter anderem auch der Modebranche, die das Wort «Mini» ganz anders als noch vor 40 Jahren interpretiert. Der Zero-Size-Wahn, so die feministische Haltung, sabotiere mit Mini-Grössen die hart erkämpfte Selbstbestimmung und ersetze sie durch eine Schlankheits-Diktatur.
Die Frau, die in Saudi-Arabien 2017 einen Mini trug, sitzt nun in Haft. Das ist schlimm, keine Frage. Doch eine Ungerechtigkeit, die unserer Kultur nicht völlig fremd ist.