Vielerorts ist BDSM als «perverse Spielerei» verpönt. Das hindert sie aber nicht daran ihrer Neigung zu frönen?
Ralph H.*: Genau.
Von was für Spielereien sprechen wir denn hier?
Also BDSM steht ja für viele verschiedene Dinge: Fesselspiele, Bestrafungen, Dominanz und Unterwerfung oder Sadomaso. Mein Ding ist am ehesten das Fesseln.
Wie muss man sich das vorstellen?
Du raubst jemanden die Bewegungsfreiheit. Du fesselt eine Person entweder ganz klassisch mit Seilen an ein Bett, schnürst den ganzen Körper zu und hängst sie an einem Haken an der Decke auf oder du wickelst deinen Partner komplett in Frischhaltefolie ein. Punkto Art und Weise setzt einem da nur die Phantasie eine Grenze.
Macht das nicht unheimliche Angst?
Ein bisschen schon. Aber das kann ja gerade der gesuchte Kick sein.
Aha.
Bei BDSM geht es um das Erfahren möglichst vieler und möglichst starker, aussergewöhnlicher Reize. Das ist eine Sinnesüberflutung. Man erlebt grenzwertige Eindrücke, visuelle und akustische Reize, Schmerz, Wut, Angst und Lust.
Und dann hat man Sex – danach. Oder davor? Oder währendessen?
Nein! BDSM muss nichts mit Sex zu tun haben. Aber man kann natürlich während, vor oder nach einer Session Geschlechtsverkehr haben, sofern das alle beteiligten Personen wollen und es so abgemacht wird. Grundsätzlich geht es bei BDSM aber nicht um Sexualität, sondern um Intimität.
Jemanden gnadenlos auspeitschen = Intimität. Wirklich?
Schau, bei BDSM lernt man seinen eigenen Körper mit Hilfe von anderen unglaublich intensiv kennen. Man vertraut Körper und Geist mit all ihren tiefsten Gelüsten und ausschweifendsten Fantasien jemandem an. Zusammen bringt man sich dann bei, die eigenen Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen sehr akkurat zu formulieren. Man kommuniziert miteinander auf eine rücksichtsvolle Art und Weise, wie es bei «Standard-Sex» viel zu selten der Fall ist.
Tönt fast ein bisschen politisch.
In der Tat! Sexualität ist in unserer christlich geprägten Welt irgendwie noch immer ein Tabu-Thema und trotzdem wird einem klar vermittelt, dass man Sex haben muss. Im Sinne von: Wer keinen Sex hat, ist ein Versager. Bei all dieser Scheinheiligkeit habe ich das Gefühl, dass wir den intimen, den individuellen Zugang zu unserem Körper verloren haben. Sex läuft indes wie ein ruckhaftes Standardprozedere ab, während wir uns entschuldigen, wenn unser Ellenbogen im Tram einen fremden Rücken touchiert.
Ist BDSM also eine Art Revolte?
Hmm. Vielleicht eher so etwas wie Selbstermächtigung. Man pfeift darauf, dass es die Mehrheitsgesellschaft pervers findet, sich mit Windeln bekleidet auspeitschen zu lassen.
Sich mit Windeln bekleidet auspeitschen zu lassen, hat doch schon etwas Perverses. Das kannst du doch nicht leugnen?
Doch, kann ich. Pervers ist, was von der Norm abweicht. Ich weiss, bei sowas denkt man schnell an Pädophilie oder etwas Derartiges. Aber eigentlich ist dies in BDSM-Kontexten weitestgehend unproblematisch.
Wieso?
Weil alle Beteiligten ihr Einverständnis geben; ergo alle daran Spass haben. Es gibt kein Schwimmen ohne Atmen. Denn Schwimmen ohne Atmen ist Ertrinken. Genauso auch beim BDSM. Es gibt kein BDSM ohne Einvernehmen. Denn wenn das Einverständnis fehlt, ist es nicht BDSM, sondern Vergewaltigung, Schändung, Körperverletzung, Freiheitsentzug etc.
Wie sieht das juristisch aus?
Dunkelgrau. Es ist klar, wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter. Aber was, wenn es beispielsweise um Sorgerechtsfragen geht? Ich denke, da kann dann eine Vorliebe für Fesselspiele schon gegen einen verwendet werden. Oder wenn jemand das Safeword vergisst!
Safeword?
Das ist das Wort, das man vereinbart, wenn es zu viel wird. Zum Beispiel «Laptop». Am besten etwas kurzes, zwei Silben und ein Begriff, der nichts mit der Sache zu tun hat, die man gerade macht. Man bedenke, dass in einem Rollenspiel ein «Nein» plötzlich zum «Ja» werden könnte. Deshalb so ein Safeword.
Da wären wir wieder bei der Rücksicht. Denkst du, dass BDSM die neue, bessere, schönere Art von Sex sein kann?
Das kann man so nicht sagen.
Wie könnte man es dann sagen?
Wenn alle Menschen beim Sex mehr auf Intimität achten würden, so wie wir BDSM'ler das tun, dann könnte das definitiv eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft haben. Aber dazu braucht es eine Gegenfrage: Was ist Sex?
Stimmt. Also, was ist Sex?
Ich glaube, Sex wird viel zu oft auf dieses Rein-Raus-Ding reduziert. Sei es nun ein Penis, ein Finger oder eine Zunge. Man kann auch Sex haben, ohne die Genitalien einzubeziehen. Ich nenne das Nichtgeschlechtsverkehr. Oder auf Englisch «Outercourse».
Erzähl mehr!
Nichtgeschlechtsverkehr umfasst eigentlich alles, das man mit angezogener Unterhose machen kann. Es ist pure Intimität und hat mit Sex, wie wir ihn kennen, nicht mehr viel zu tun.
Was macht man denn so beim Nichtgeschlechtsverkehren?
Zum Beispiel sich ganz bewusst streicheln. Oder sich massieren. Man kann auch gewisse Toys hinzuziehen. Etwa eine Augenbinde oder Eiswürfel. Solche Utensilien können die Wahrnehmung intensivieren. Plötzlich nimmt man ganz genau wahr, wie sich Fingerkuppen von Fingerspitzen unterscheiden, wie sich ein feiner Atem am Knie ganz anders anfühlt als am Ellenbogen. Und der Moment, wenn genau diese eine Körperstelle berührt wird, von der man gar nicht wusste, dass sich etwas so gut anfühlen kann. Plötzlich hat man Gänsehaut am ganzen Rücken, beginnt unregelmässig zu atmen und drückt sich unweigerlich näher an die andere(n) Person(en). Aber schliesslich führt kein Weg am Ausprobieren vorbei. Und um die nächste Frage gleich zu beantworten: Orgasmen sind dabei sehr nebensächlich.
Das tönt ein bisschen wie eine Soft-Version von BDSM.
Wenn du so willst. Man könnte durchaus sagen, dass BDSM eine weit entwickelte Form von Nichtgeschlechtsverkehr ist. Ob Sich-mit-verbundenen-Augen-Streicheln schon als BDSM bezeichnet werden könnte, wage ich zu bezweifeln.
Inwiefern machen uns solche Spielereien, sei es nun BDSM oder Nichtgeschlechtsverkehr, zu besseren Menschen?
Durch diese Art von Intimität findet man seine eigenen Grenzen. Es ist ein anstrengender Prozess – das lässt sich nicht abstreiten. Man ist gezwungen seine Komfortzone zu verlassen und man muss ein unglaubliches Vertrauen zu anderen Personen aufbauen. Aber all das lohnt sich! Denn dadurch lernt man präzise zu kommunizieren, seine Bedürfnisse und sein Unbehagen einzuordnen und speditiv mitzuteilen. Viele Menschen wissen nicht, wie ihr eigener Körper in Extremsituationen reagiert. Schockstarre, Schwächeanfall, Orientierungslosigkeit? BDSM'ler haben schon Situationen erlebt, von denen andere Menschen nicht mal zu träumen wagen und kennen dadurch den eigenen Körper in- und auswendig. Dies gibt ihnen in alltäglichen Krisensituationen den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht erst finden oder fangen müssen, sondern sofort wissen, wie sie mit der Situation umgehen können.
Nicht zuletzt steigern diese Dinge auch das Selbstwertgefühl. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, von jemandem berührt zu werden, der sich genau dafür interessiert, wie du gerne berührt, umarmt, geschlagen, gefesselt werden willst. Und wer schon mal eine 30 Zentimeter grössere und 40 Kilogramm schwerere Person dominiert hat, kennt das Gefühl der absoluten Unbesiegbarkeit garantiert.
Du willst also sagen, dass das Erforschen der eigenen Intimität – sei es Streicheln oder Verprügeln – uns im Alltag hilft?
Auf jeden Fall! Viele dieser Fähigkeiten sind für das Berufsleben derart wichtige «Soft Skills», dass «BDSM»-Affinität eigentlich in den Lebenslauf gehören sollte. Arbeitgeber sollten sich um BDSM-Menschen reissen!