Herr Büchi, ich habe keine Tattoos. Können wir trotzdem Freunde sein?
Maxime Büchi: Meinen Sie das ernst?
Ja.
Potenziell schon. Ich glaube nicht, dass ich mit jemandem mehr Gemeinsamkeiten habe, nur weil diese Person ein Tattoo hat.
Aber es ist ja schon so, dass es gerade sehr en vogue ist, einen tätowierten Körper zu haben?
Das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass das Tattoo an sich der Trend ist, sondern die individuelle Freiheit. Heute kann man selber entscheiden, was man mit seinem Körper anstellen will. Das nutzen die Menschen nun aus.
Das war früher anders?
Ja. Vor 30 oder 40 Jahren war es noch eine Art Tabubruch, ein Tattoo zu tragen. Damals waren in der Schweiz nur Rocker, Biker, Punks und Hausbesetzer tätowiert.
Wie hat sich das verändert?
Das ist Teil eines langwierigen Kultur-Prozesses, der irgendwann in den 50er-Jahren gestartet ist. Soziale Bewegungen wie der Feminismus und die sexuelle Befreiung im Zuge der 68er-Bewegung haben ein freiheitliches Fundament dafür geschaffen, dass Menschen in westlichen Gesellschaften selbstständig über ihren Körper entscheiden dürfen.
Das Tätowieren ist also Teil dieses Prozesses?
Ja, genauso wie die Akzeptanz von Schwulen und Lesben, die Emanzipation der Frau oder die Normalisierung von vorehelichem Sex. Aber ich betrachte das Ganze noch viel weiter. Auch dass es heute ganz üblich ist, sich die Nase machen zu lassen, Brüste zu vergrössern oder sich Haare zu implantieren, sind Resultat jener Befreiungskämpfe. Wir leben im Zeitalter der individuellen Selbstbestimmung.
Hat der Mainstream den Tattoos damit den Wert gestohlen?
Man kann hier nicht von Stehlen sprechen. Schliesslich gehört das Tätowieren ja niemandem. Klar, vor noch nicht allzu langer Zeit, waren Tattoos noch etwas Verruchtes. Wer sich eines stechen liess, stieg damit aus der Mehrheitsgesellschaft aus, hinein in eine Subkultur. Aber auch das war nicht immer so. Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert waren es vor allem Adlige und Königsfamilien, deren Körper die blaue Tinte zierte. Königin Victoria soll sogar einen Tiger und eine Python an sehr intimen Stellen getragen haben.
Dein Studio heisst ja auch «Sang Bleu». Auf Deutsch versteht man darunter «blaues Blut», also Adel und Aristokratie. Gibt es da eine Verbindung?
Ertappt! «Sang Bleu» ist ein Wortspiel, das sich genau darauf bezieht. Das Ganze begann mit einem Magazin, das ich vor zehn Jahren zum ersten Mal herausgegeben habe. Darin zu sehen sind Dinge, die ich für nobel halte: Schmuck, Uhren, Kunst, Mode und so weiter. Aber ich setzte sie in einen anderen Kontext. Ich nahm all diese mutmasslichen Luxus-Güter und schmücke mit ihnen tätowierte Körper. Ich liess klassische Gemälde mit fetischistischen BDSM-Akten tanzen – und ich zeigte damit, dass es diese Klassifizierungen nicht mehr gibt.
Welche Klassifizierungen meinen Sie?
Luxus ist nicht mehr das, was es einmal war. Jeder kann sich luxuriös zeigen und alles kann luxuriös gezeigt werden. Blaues Blut ist nicht mehr etwas, das man von Geburt aus hat, sondern etwas, das man sich aneignen kann, wenn man will. Dieser Zustand der freiheitlichen Inszenierung ist es, den ich ausdrücken will. Und «Sang Bleu» ist der Stil, mit dem ich das tue. «Sang Bleu» ist inzwischen mehr als einfach ein Magazin oder ein Tattoo-Studio. Es ist eine ganze ästhetische Ausdrucksweise.
Sie tätowieren Banker, Manager und sogar schon Kanye West fand sich unter ihrer Nadel wieder. Ist ein «Sang Bleu»-Tattoo nicht doch ein Luxus, der nur einer bestimmten Gruppe vergönnt bleibt?
Ich bin nicht viel teurer als andere Tätowierer. Ich wähle meine Kunden aus einer ziemlich langen Warteliste nach künstlerischem Interesse aus. Ganz egal ob er CEO von was auch immer ist oder der Typ, der mir gestern die Pizza lieferte. Von mir aus kann ein Kunde auch, sobald er aus dem Laden läuft, schon wieder vergessen, wer ihm gerade ein Tattoo gestochen hat. Solange es eine schöne Arbeit ist, die das Innere der tätowierten Person nach Aussen trägt, bin ich froh. Ich bin nicht an Prestige interessiert, sondern an Qualität.
Aber Ihre Kunden vergessen nicht, wer gestochen hat. Sie stellen es auf Instagram.
Zu einem grossen Teil, ja. Aber ich glaube, das hat weniger mit mir, als mit dieser Plattform zu tun. Instagram wurde in den letzten Jahren zu sowas wie dem grössten Spielplatz für Tattoo-Fanatiker.
Wieso?
Es funktioniert einfach. Tattoo-Kunst zeigt Haut, Nacktheit und Menschlichkeit. Sie ist sehr graphisch und ist deshalb einfach zu verstehen. Sie ist catchy. Ich denke mir oft, dass Instagram sowas wie die Weiterentwicklung von Reality-TV darstellt. Nicht weil es realer ist, sondern weil es realer wirkt. Reality-TV hatte klare Grenzen. Die Shows liefen zu einer bestimmten Zeit, man wusste, dass hinter den Bildern ein ganzes Produktionsteam stand, das die vermittelten Inhalte verfälschen könnte. Auf Instagram schwemmt das Leben fremder Leute fast ungefiltert und pausenlos in das eigene Leben hinein.
Sie referierten an der ADC Creative Week unter dem Motto „Addicted to Creativity“ – «Süchtig nach Kreativität» an der Zürcher Hochschule der Künste. Glauben sie, dass diese neue Art der Selbstinszenierung, wie sie auf Instagram geschieht, abhängig macht?
Ich finde Sucht ist ein sehr heikler Ausdruck. Er ist negativ. Er bezeichnet etwas Unkontrollierbares. Ich sehe in dieser Entwicklung aber nicht nur negative Dinge. Sich öffentlich zu zeigen, sei es mit einem Tattoo oder mit ausgefallener Kleidung, ist das Ausleben von Kreativität. Und Kreativität ist überhaupt nichts Unkontrollierbares. Im Gegenteil! Sie ist pure Kontrolle auf ganz hohem Niveau. Denn wenn du dazu fähig bist, etwas zu kreieren, dann veränderst du die Welt, dann erschaffst du Dinge, die davor nicht da waren, dann findest zu ein Stück weit zu dir selbst. Kreativität kommt schliesslich aus unserem Innersten; sie ist nichts Fremdes. Wenn man es so sieht, kann man eigentlich gar nicht süchtig nach Kreativität sein.
Da spricht der Künstler in Ihnen. Sie sind aber auch gleichzeitig ein Unternehmer. Was sagt der wirtschaftliche Teil in Ihnen?
Dass es die Wirtschaft auf die Kreativität abgesehen hat, ist nicht zu leugnen. Man hat in den letzten Jahren erkannt, dass die Förderung der Kreativität ein menschliches Bedürfnis ist, das noch nicht vollkommen gestillt ist. Da setzen jetzt viele Unternehmen erfolgreich an: Es werden minimalistische Möbelstücke und abgefahren Klamotten vermarktet. Aber das Schöne daran: Beim Tätowieren ist es schwierig den Leuten irgendeinen Trend aufzuschwatzen. Schliesslich tut es trotz aller Entwicklung immer noch höllisch weh und bleibt ein Leben lang.