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Flüchtlinge fotografieren ihren Alltag: Kunstprojekt verteilt Kameras in Paris

Vom Zeltlager zum Eiffelturm: Flüchtlinge porträtieren ihr Leben mit Wegwerfkameras

Amy Lineham hat ein Praktikum in einer Pariser Flüchtlingsunterkunft absolviert. Dabei wurden ständig Kameras auf die geflüchteten Männer gehalten. Amy drehte den Spiess um und verteilte Wegwerf-Kameras unter den Flüchtlingen.
07.06.2017, 16:2707.06.2017, 18:37
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Amy Lineham will helfen. Deshalb engagiert sich die gebürtige Britin in Form eines fünfwöchigen Sozialpraktikums in einer Pariser Flüchtlingsunterkunft. Amy würde sich selbst belügen, würde sie behaupten, sie wäre mit offenem Herzen und grenzenloser Selbstlosigkeit an ihr Praktikum herangegangen. In der Tat betritt sie an ihrem ersten Tag mit ganz vorsichtigen Schritten und einem mulmigen Gefühl in der Bauchhöhle das Übergangszentrum «Porte de la Chapelle» im Norden der französischen Hauptstadt. Es ist ein neu eröffnetes Camp, das ausschliesslich Männer beherbergt. Amy wurde ihm zugeteilt. Als weisse junge Frau. 

«Ich war sehr nervös, bevor ich im «La Chapelle» angefangen habe. Was ich in den Medien über den Umgang von männlichen Flüchtlingen mit europäischen Frauen gehört habe, bereitete mir Sorgen. Im Nachhinein ziehe ich die Bilanz, dass ich während meiner fünf Wochen im Männer-Camp weniger belästigt wurde als an einem normalen Ausgangsabend in London. Es ist wie überall: Manche Typen sind blöd, manche sind okay, die meisten sind super nett.»* 

Passagen, die mit einem Asterisk (*) gekennzeichnet sind, stammen aus Amy Linehams persönlichem Rückblick auf das Projekt.

Im Gespräch mit watson erwähnt Amy, dass ihr während des Praktikums bewusst wird, wieso die meisten Leute eine solch eindimensionale Vorstellung mit dem Wort Flüchtling verbinden, wie auch sie es getan hat. Eine gute Handvoll Journalisten seien während ihrer Zeit im Übergangszentrum vorbeigekommen, hätten mit der Leitung gesprochen und Fotos vom Camp geschossen. Manche hätten dann noch mit dem einen oder dem anderen Flüchtling gesprochen. Aber höchstens für ein paar Minuten, so Amy. Die meisten hätten diesen Teil ihrer Recherche jedoch ohnehin einfach ausgelassen.        

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«Flüchtlinge werden nicht als Individuen dargestellt. Journalisten definieren sie lediglich als homogene Masse, die alle mit den selben Lebensumständen zu tun haben.»
Amy Lineham

«Dieser absolute Mangel an Engagement machte mich wütend. Mit der Vereinheitlichung und der Stilisierung all dieser Menschen zu ‹den Flüchtlingen› untergraben die Journalisten – egal ob diese der Flüchtlingsproblematik positiv oder negativ gegenüberstehen – deren Status als Individuen. Auch wenn es banal klingt, ja vielleicht pathetisch: Menschen sind Menschen, und wenn man einer Gruppe von Menschen eine Reihe von Charaktermerkmalen zuschreibt, spricht man diesen Personen ihre Menschlichkeit ab.»*

Aus diesem Ärger hinaus lässt Amy das Projekt «Disposable Perspectives» (dt.: Einweg-Perspektiven) entstehen. Sie verteilt 15 Wegwerfkameras unter den geflüchteten Männern. Acht davon kehren mit einem durchgeknipsten Film zu der angehenden Sozialarbeiterin zurück. Die sieben anderen seien auf verschiedenen Wegen abhanden gekommen. Unter anderem seien die Apparate auch von der Polizei konfisziert worden. «So was passiert Flüchtlingen extrem oft. Die Polizei greift in Situationen ein, in die sie bei Leuten mit ‹normalem› Aufenthaltsstatus nie intervenieren würde», so Amy.

«In gewisser Weise gaben die verloren gegangenen Kameras genau gleich viele Geschichten her wie die zurückgebrachten.»
Amy Lineham

Die Filme aus den retournierten Kameras lässt Amy entwickeln. Sie ermöglicht uns damit einen Blick durch eine unbekannte Linse; eine Sichtweise, die so in den Medien noch nie wirklich gezeigt wurde. Die Bilder porträtieren eine undramatische Sicht auf das Leben geflüchteter Männer. Manche zeigen dabei private Szenen, andere sehen wie ganz normale Touri-Bilder mit einem Retro-Touch aus.

«Die Fotos sind in ihrem individuellen Ausdruck von Leben überwältigend; umständlich ungewohnt, aber entschlossen real. Sie überschritten gar meine künstlerischen Erwartungen an die Geflüchteten. Und als ich mir das so dachte, ertappte ich mich auf unangenehme Art und Weise selber wieder dabei, wie ich die Kategorie ‹Flüchtling› völlig stilisiere.»

Zusätzlich zu den Fotos kriegen alle Beteiligten die Chance, die Bilder mit einer schriftlichen Botschaft zu ergänzen. Dabei äussern sich Gefühle, Haltungen und Hoffnungen, die mit einer Einweg-Kamera nicht zu beschreiben gewesen wären. Diese Worte vermitteln Informationen auf mehreren Spuren. Auf einem der Kärtchen heisst es:

«Police don't respect asylum seekers! Guys, asylum seekers not animals, asylum seekers are people!»
Amy Lineham
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Die hier gezeigten Bilder wurden uns von Amy Lineham zur Verfügung gestellt. Alle weiteren Fotos, die während des Projekts entstanden sind, werden noch bis zum 9. Juni im Rahmen einer Ausstellung in London gezeigt.

Ein Polaroidbild, jeden Tag, 18 Jahre lang – bis Jamie stirbt.

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Ein Bild, jeden Tag, 18 Jahre lang – bis Jamie stirbt
9. August 1979.
quelle: © jamie livingston
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