Streng schaut er mich über seinen Brillenrand hinweg an: «Isch abgloffe», sagt er bloss. Ich nicke amüsiert: «Ich weiss. Ade, mässi.» – «Ade.» So viel zu meiner ersten Begegnung in der Schweiz. Auf mein freundliches «Grüezi!» hatte der Zollbeamte nur wortlos genickt. Dass mein Schweizer Pass abgelaufen war, wusste ich zum Glück schon. Na gut, «Welcome back!», sage ich mir grinsend und frage mich, ob es wohl stimmt, was ich allen im Ausland erzählt hatte?
Nach der trockenen Begegnung mit dem Zollbeamten Aegerter können mir Glockengebimmel, Heidi-Fratze und Alphorngedudel im Shuttle zur Gepäckausgabe nun nichts mehr anhaben. Ganz anders einer meiner Mitreisenden:
Immer schön mötzeln, das können wir gut – wie ich in diesem Artikel auch gleich selbst unter Beweis stellen werde.
Aber nicht nur: Denn insgeheim bin ich mehr Schweizer Bünzli als mir lieb ist. Darum bin ich nach zwei Jahren in New York auch wieder zurück in meine schöne, saubere, geregelte Heimat gezogen und sehe diese nun mit frischem Blick.
Pferdeäpfel statt Hundescheisse auf der Strasse, Blätter statt Plastiksäcke an den Bäumen, Wald- statt Hausmäuse, putzige Ameisen statt widerliche Kakerlaken – die Gegensätze zu New York könnten nicht krasser sein und ich liebe sie. Nebst der Natur – von ÖV und Infrastruktur brauche ich gar nicht erst anzufangen – sind es natürlich ebenso die Menschen, die hier grundlegend anders sind.
Einer meiner ersten Taten zurück im Heimatland: Ab in die Migros! Ovi Schoggi, Rösti, Käse und Brot – ich könnte die Liste endlos lange weiterführen, was mir gefehlt hat.
Mit meinem Poschtiwägeli – wer etwas auf sich hält, hat eines – spaziere ich los. Hier, im Zürcher Oberland, wo ich wohne, grüsst man sich noch auf der Strasse. «Zi … zi!», hallt es von überall her. Die letzte Silbe von «Grüezi» also, auf die man sich beschränken könne, wenn man das «Grü-e» als Fremdsprachiger nicht hinbekomme, wie mir ein ausländischer Freund einmal verriet. Ich schiele also verstohlen die vorübergehenden Passanten an, murmle «Zi!» und marschiere weiter.
Schweizerdeutsch fühlt sich in meinem Mund noch fremd an:
Manche mir unbekannte Nachbarn manikürieren mit strengen Mienen und gesenkten Köpfen ihre Rasen. Als ich sie grüsse, schauen sie weder hoch noch erwidern sie meinen Gruss. Nur ihre Gartenzwerge scheinen mich hämisch anzugrinsen. Wenn die Nachbarn hinter ihren Gartenzäunen verschanzt sind, scheint die Regel des öffentlichen Grüssens ausser Kraft gesetzt zu sein. Ganz anders war es da in New York:
So johlten mir fremde Nachbarn ohne mein Zutun von Weitem nach.
Die Schweizer Nachbarn waren nicht zum Plaudern aufgelegt, so schnell gebe ich aber nicht auf. An der Kasse biete ich der älteren Dame hinter mir meine Cumulus-Punkte an. Sie freut sich sichtlich, und wir kommen auch gleich mit der Kassenmitarbeiterin ins Gespräch, die uns hinter vorgehaltener Hand verrät: «Eine Kollegin von mir wurde gefeuert, da sie ständig Cumulus-Punkte sammelte, die nicht ihr gehörten.» Wir kichern verschwörerisch. Ist der Weg zum Herzen der Schweizer etwa über Geld zu erreichen? Wie dem auch sei, es klappt mit dem Small Talk ja doch!
Eine Freundin von mir, die mit einem Iren verheiratet ist, drückte es treffend aus: «In Irland oder den USA ist das Miteinanderplaudern so natürlich wie das Atmen. In der Schweiz muss man erst die Schutzbarriere des Anderen überwinden.»
Auch das Sozialleben «passiere einfach». In der Schweiz hingegen müsse man sich oft wochenlang im Voraus verabreden, von Spontaneität keine Spur. Ich nicke und denke an meinen auf Wochen hinaus vollgestopften Terminkalender.
Ich verlasse den Laden und denke weiter über Schweizer Klischees nach. Vor ein paar Tagen war ich in den falschen Bus gestiegen und fragte den Busfahrer erst, wo er hinfahre, dann, ob er nicht für mich einen Umweg fahren könne. Ein Schenkelklopfer war mein Spruch zugegebenermassen nicht, aber der Fahrer war dermassen unbeeindruckt, dass bloss peinliches Schweigen folgte.
Da war aber auch der Busfahrer, dem ich gestand, dass ich ihn «kenne» seit ich 16 Jahre alt sei; er sei mein Lieblingsbusfahrer, hatte er mich doch einmal nach der letzten Fahrt doch noch an meine Station mitfahren lassen, bevor er ins Depot fuhr. Wir plauderten unbeschwert und erst beim Aussteigen wurde mir ein wenig unbehaglich zumute, als ich die Blicke der anderen schweigenden Fahrgäste bemerkte. Entzückt erzählte ich einer langjährigen Freundin die Geschichte. Sie rief erstaunt: «Das ist Mohammed! Er ist auch mein Lieblingsbusfahrer!». Die kleine, feine Schweiz, in der es doch noch so etwas wie Zwischenmenschlichkeit gibt.
Ein paar «Zi’s» und schräge Blicke von Nachbarn später bin ich wieder zu Hause. Das ist nämlich auch so eine Schweizer Besonderheit: Sich anstarren, von oben bis unten mustern, begutachten.
Mir fiel das erst auf, als mich eine Schweizer Freundin, die auch länger in New York war, darauf hinwies. Es ist wirklich unmöglich, wie durchdringend wir uns alle angaffen. Aber sprechen können wir nicht miteinander. Das hat wahrscheinlich unter anderem mit der Höflichkeitstheorie zu tun.
Unsere Art höflich zu sein, zeigt sich nämlich darin, uns gegenseitig in Ruhe zu lassen – daher auch der sehr spärlich praktizierte Small Talk. Aber neugierig sind wir dann wohl doch und mustern uns umso eingehender. Ich weiss, ihr habt es bestimmt satt, Plattitüden von New York zu hören, aber dort könnte man wirklich nackt die Strasse runterlaufen und vor sich hinsingen, und keiner würde mit der Wimper zucken. Das hat schon etwas Befreiendes.
Mein Nachbar im Reihenhaus neben mir befreit sich gerade von seiner vollen Blase. Und ich dachte, New York sei laut. Als er um 23 Uhr abends dann bei einem Fussballspiel noch rumschreit wie ein Wald voll Affen, bin ich drauf und dran, bei ihm zu klingeln. Nachtruhe ist schliesslich um 22 Uhr. Um mich zu beruhigen, google ich, wie und wann ich welches Material entsorgen kann und finde alle Abgabestellen und Zeiten fein säuberlich aufgelistet. Der Bünzli in mir frohlockt. Ich ziehe meine Tigerfinken aus, lege mich ins Bett und träume von Alphornklängen, Aromat und angenehm schweigsamen Schweizern.