Wenn es plötzlich schmerzt oder zieht, die Beschwerden aber noch erträglich sind, konsultieren viele Schweizer erst einmal Dr. Google. Ganze 84 Prozent der Befragten gaben in einer Studie von Swisscom an, dies bereits einmal getan zu haben.
Doch die Diagnosen von Google, Yahoo und Co. fallen oft dramatisch aus: aus Kopfschmerzen wird sofort ein Tumor, Bauchweh ist sicher ein Zeichen von Krebs und der Grund für die Vergesslichkeit könnte gut Alzheimer sein. Das kann zu Verunsicherung und mehr Arztkonsultationen führen, gerade bei Leuten, die unter «eingebildetem Kranksein» leiden, genannt Hypochondrie. Macht das ständige googeln nach Symptomen und deren möglichen Ursachen also krank?
Eine aktuelle These von britischen Public-Health-Forschern sagt genau das. Laut Wissenschaftler des Imperial Colleges und des King’s College in London sucht in England heute etwa einer von fünf Patienten deswegen selber eine Notfallpraxis Arzt auf. Laut Psychiater Peter Tyrer und seinem Team handelt es sich um ein ernstzunehmendes und vor allem wachsendes Problem. Denn: Seit dem Internet-Zeitalter ist es für Patienten einfacher, nach Symptomen und deren möglichen Diagnosen zu suchen. Und wer sucht, der findet vieles – und wird so eher beunruhigt. Aus der Hypochondrie wird Cyberchondrie.
Das Phänomen habe auch finanzielle Auswirkungen. Denn die Arzttermine und Laboruntersuchungen, die eigentlich nicht nötig wären, führten zu steigenden Kosten, so Tyrer. Er fordert deshalb: Gegen Cyberchondrie soll entschlossener vorgegangen werden. Psychologen sollen die Betroffenen mit spezifischen Therapien, zum Beispiel mit der kognitiven Verhaltenstherapie, behandeln. Dies sei heute zu selten der Fall. «Stattdessen wird einfach die befürchtete Krankheit behandelt».
Das Problem sei, dass die Symptome der Angst um die Gesundheit fehlinterpretiert werden als Symptome der beschrieben Krankheit selber: «Die Patienten gelangen zu Ärzten, welche dann nach einer physischen Diagnose suchen, aber die geistige Ebene des Problems ignorieren», sagt der Psychiater gegenüber dem Schweizer Onlineportal Medinside.
Eine der Studienautorinnen, die Gesundheitsökonomin Barbara Barret, vermutet, dass das Phänomen das britische Gesundheitssystem mindestens 420 Millionen Pfund pro Jahr kostet – also weit über eine halbe Milliarde Franken. Laut Medinside wären das umgerechnet auf die hiesigen Zustände rund 250 Millionen Franken, die sich theoretisch herauspressen liessen, wenn unnötige Arztbesuche aus purer Furcht wegfallen würden.
Der Fachverband Public Health Schweiz organisiert im Dezember einen Kongress zum Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen. Dr. Google kommt dort ebenfalls zur Sprache. Geschäftsführerin Corina Wirth sagt auf Anfrage von watson: «Über diese Problematik zu diskutieren ist wichtig, auch bei uns. Denn es ist gut möglich, dass Cyberchondrie auch in der Schweiz zu Kosten und Unsicherheit führt.» Deshalb sei es zentral, dass sich die Gesundheitsfachleute des Phänomens bewusst sind. Ob sich damit 250 Millionen Franken einsparen liessen, bezweifelt sie jedoch: «Inwiefern welche Entwicklungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu welchen Zusatzkosten im Schweizer Gesundheitssystem führen, müsste differenziert untersucht werden.»
Sie ist ausserdem überzeugt: «Ärztinnen und Ärzte können es bereits heute sehr wohl unterscheiden, ob an dem Verdacht des Patienten etwas dran ist oder ob sich dieser seine Angst nur in Foren hochgeschaukelt hat.» Die Diagnosestellung gehöre ja «zu den zentralsten Aufgaben» der Ärzte.
Ähnlich sieht das Philippe Luchsinger, Präsident des Berufsverbands Haus- und Kinderärzte Schweiz. Er sagt: «In den letzten Jahren haben Angststörungen generell zugenommen, seien es Panikattacken, komplexere Angsterkrankungen oder Depressionen mit Angstzuständen. Cyberchondrie ist eine Variante davon.»
Treten solche Angsterkrankungen in geringem Ausmass auf, würden hierzulande auch Hausärzte die Patienten mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen behandeln. «Bei komplexeren Fällen weisen wir die betroffenen Patienten aber gerne an Psychiater oder Psychologen weiter.»